57. Glaubensbrief - Februar 2011   PDF-Zeichen als PDF-Datei (151 kB)

Der Fall Jesus von Nazareth

Ich habe den Eindruck, für viele Zeitgenossen und Wissenschaftler hat sich etwa folgendes Bild von Jesus herauskristallisiert:

Jesus: bloß ein Mensch, der sein Herz
in beide Hände nahm?

Natürlich sind sie überzeugt, dass er gelebt hat. Das bestreitet heute kein ernstzunehmender Wissenschaftler mehr. Er war ein großer Lehrer der Menschheit. Seine Bergpredigt etwa wird immer eine Perle höchster Ethik bleiben, seine Gleichnisse sind Schätze der religiösen Literatur. Leider ist er mit der jüdischen Obrigkeit und der römischen Besatzungsmacht in Konflikt geraten und wurde zum Tod am Kreuz verurteilt. So starb er, ein bedauerlicher Justizirrtum. Alles in allem: ein großer Mann, aber kein Gott oder Gottessohn.

Erst später haben seine Jünger dieses Bild kräftig vergoldet. Aus dem einfachen Mann aus Nazareth und jüdischen Lehrer haben sie einen Gottmenschen gemacht, der zur Rechten Gottes des Vaters thront.

Den Goldglanz abtragen

Wenn wir den Goldglanz abtragen und darunter die ursprüngliche Schicht wieder freilegen, scheint das nicht nur der wissenschaftlichen Ehrlichkeit zu entsprechen. Es würde uns Christen auch wieder enger mit den Juden verbinden. Denn viele jüdische Gelehrte sind überzeugt, dass der jüdische Rabbi Jesus nur von seinen jüdischen Wurzeln und der jüdischen Umwelt her richtig verstanden werden kann. Viele jüdische Gelehrte schätzen Jesus. Sie glauben ihn als Juden sogar besser zu verstehen als die Christen, denen vieles Jüdische in den Evangelien erst erklärt werden muss. Aber sie können in ihrem strengen Eingottglauben natürlich nicht annehmen, dass Jesus als Gottes Sohn eine göttliche Natur besitzt.

Wenn Jesus bloßer Mensch ist, würde uns das auch den Muslimen näher bringen. Auch die Muslime schätzen ja Jesus, er kommt wiederholt im Koran vor, wie auch seine Mutter Maria. Doch natürlich ist Jesus nicht mehr als ein Prophet, und der letzte Prophet: Mohammed, ist größer und wichtiger als er. Jesus Gottes Sohn? Das ist in islamischen Augen Gotteslästerung. „Gott wurde nicht gezeugt und zeugt auch nicht“ steht im Koran.

Einmal die Vergoldungsoptik ablegen?
Foto: Wilson Urlaub / pixelio.de

Gewiss, es wäre prima, wenn wir auf diese Weise dem Judentum und Islam näher kämen. Aber die entscheidende Frage ist doch: Sind das die Ergebnisse, die eine historisch-kritische Wissenschaft herausgefunden hat, und gehören wir zu den Naiven und Ahnungslosen, wenn wir die Sache anders sehen?

Natürlich ist es leicht, ohne viel nachzudenken einfach zu sagen: So etwas kommt für mich von vornherein nicht in Frage. Aber wenn wir uns zutrauen, das Gespräch mit den anderen zu suchen und auf deren Argumente einzugehen – was können wir dann antworten?

Was können wir antworten?

Wir können antworten: Es ist keineswegs so, dass die ältesten Schichten des Neuen Testaments uns einen Jesus zeigen, der nicht mehr war und nicht mehr sein wollte als ein Mensch. Um im Bild zu bleiben: der Goldgrund ist schon in den ältesten Schichten da. Natürlich konnte Jesus nicht sagen: „Ich bin Gott“. Man hätte ihn in seiner jüdischen Umwelt sofort gesteinigt. Er sagt vielmehr: „Ich bin Gottes Sohn“, und auch das nur selten, und meist sagen es andere zu ihm oder über ihn. Dieser Titel war auch keineswegs klar, denn im jüdischen Denken gab es viele Söhne Gottes, z. B. einige Könige Israels. Jesus nannte sich lieber Menschensohn. Es klingt paradox, aber das heißt auf keinen Fall: ein bloßer Mensch. Es spielt vielmehr an auf das 7. Kapitel im Propheten Daniel (7,13f) und ist ein messianischer Titel. Dieser Menschensohn steht vor Gott, und ihm werden von Gott Herrschaft und Reich übergeben. Jesus spielt auf diesen Menschensohn z. B. an, als er in seinem Prozess vor dem Hohenpriester steht und sagt, dass er auf den Wolken des Himmels kommen werde (Markus 14,62).

Im Übrigen darf man das Selbstbewusstsein Jesu nicht in erster Linie in seinen Hoheitstiteln suchen. Es drückt sich vielmehr vor allem indirekt aus: in seinen Taten, den Worten der Sündenvergebung usw.

Die ältesten Schriften des Neuen Testaments

Die ältesten Schriften im Neuen Testament sind die echten Briefe des Apostels Paulus. Wenn das Bekenntnis zu Jesus als Gottessohn, der dem Vater wesensgleich ist, eine spätere Übermalung sein sollte, dann müsste es hier in den ältesten Schriften noch fehlen. Es fehlt aber keineswegs. Ja, in seinem Brief an die Philipper zitiert Paulus einen Hymnus auf Christus, den er selbst bereits vorgefunden hat, der also vorpaulinisch ist. In diesem Hymnus heißt es bereits: „Er (Christus) war Gott gleich, / hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen…“ (Philipperbrief 2,6 f). Eine Gottgleichheit Jesu Christi; seine Präexistenz; seine Menschwerdung aus Liebe – all das ist schon in dieser ganz frühen Schicht des Neuen Testaments enthalten. Wer meint, am Anfang des Christentums habe ein rein menschlicher Jesus gestanden, der täuscht sich sehr.

Ich hoffe, es war nicht allzu schwere Kost, die ich Euch heute vorgesetzt habe. Aber ich habe den Eindruck, dass viele Zeitgenossen auf diese Meinung: „Jesus war ein großer Mensch, aber nicht mehr“ hereinfallen. Dem kann man nicht einfach unseren Glauben entgegensetzen, sondern Argumente. Und die können manchmal ein wenig kompliziert sein.
Ihr könnt hierzu auch das ansehen, was ich im „Schnupperkurs Glauben“ im 15. Glaubensbrief: „Wer ist denn dieser Jesus?“ ins Netz gestellt habe.

Euch allen eine gesegnete Zeit

Euer
Karl Neumann