8. Glaubensbrief - Januar 2007   PDF-Zeichen als PDF-Datei (99 kB)

Im gegenwärtigen Augenblick leben

Ich fragte einen japanischen Zen-Mönch nach einer einfachen Einführung in die Meditation. Ich war überrascht, als er mir das Büchlein eines vietnamesischen Zen-Mönches empfahl. Meditation ist nach den Worten dieses Mönches tatsächlich ganz einfach zu begreifen. Sie beruht auf der Achtsamkeit. Das mit Aufmerksamkeit tun, was wir gerade tun.


Mit den Gedanken bei dem, was wir tun.
Foto: PixelQuelle.de

Er nennt ein Beispiel aus seiner Kultur, das uns simpel erscheinen mag, doch das ist gerade seine Absicht. "Wenn wir beim Abwaschen nur an die Tasse Tee denken, die auf uns wartet, und uns beeilen, damit wir schnell fertig werden, so, als ob der Abwasch etwas Überflüssiges sei, dann 'waschen wir nicht ab, um abzuwaschen'. Und mehr noch, wir leben nicht, wenn wir abwaschen. ... Wenn wir nicht abspülen können, ist es gut möglich, dass wir auch nicht in der Lage sind, unseren Tee zu trinken. Wenn wir Tee trinken, werden wir nur an andere Dinge denken und uns kaum der Tasse in unseren Händen bewusst sein. So verschlingt uns die Zukunft..." (Thich Nhát Hanh, Das Wunder der Achtsamkeit).

Als wenn ich nichts anderes zu tun hätte

Gleicht das, was der buddhistische Mönch sagt, nicht dem, was auch die christlichen Lehrer meinen, wenn sie sagen, es komme alles darauf an, im gegenwärtigen Augenblick zu leben? Was z. B. Frère Roger von Taizé "Das Heute Gottes leben" nennt? Ich habe diese Spiritualität am eindrucksvollsten bei Angelo Roncalli kennen gelernt, dem späteren Konzilspapst Johannes XXIII. Folgende Sätze aus seinem geistlichen Tagebuch haben mich tief geprägt: „Ich halte mich an ein Prinzip, das ich nie genug durchdenken kann: Ich muss jedes Ding so tun, jedes Gebet so sprechen ..., als wenn ich nichts anderes zu tun hätte, als wenn der Herr mich in die Welt gesetzt hätte, einzig um diese Tat gut auszuführen, und als ob an ihr gutes Gelingen meine Heiligung gebunden wäre, ohne an das Vorher oder Nachher zu denken. ... Es ist das Prinzip der geistigen Anwesenheit bei allem Tun, das ‚age quod agis' – was du tust, tue ganz – im Angesicht Gottes“.

Das sind kurze Sätze, aber sie enthalten ein Programm für ein ganzes Leben. Roncalli hat es ausgewählt, weil er sich in dem Wust der spirituellen Rezepte nicht mehr zurechtfand. Er brauchte eine einzige Grundregel, die zudem noch ganz einfach war. Einfach zu verstehen und einfach anzuwenden, aber nicht unbedingt einfach zu tun. Das wird jeder merken, der es einmal im Ernst versucht. Es gehört langes, geduldiges Üben dazu, denn den meisten von uns wird es so gehen wie beim Beispiel des Zen-Mönchs: unsere Gedanken sind überall, nur nicht beim Abwaschen, bei der Tasse in der Hand, bei der Handlung, die wir gerade tun. Da hilft es, sich wie Roncalli zu sagen: jede Handlung ist unendlich wichtig. Vor Gott ist das Kleine nicht klein. Jedes Ding so tun, „als wenn der Herr mich in die Welt gesetzt hätte, einzig um diese Tat gut auszuführen“ – wenn ihr das versucht, gibt es euch ungeahnte Kraft.


Im gegenwärtigen Augenblick leben.
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Der gegenwärtige Augenblick ist wichtig, nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft. Kein unnützes Nachgrübeln über die Vergangenheit, keine störenden Sorgen um die Zukunft. Frère Roger wiederholte immer wieder den Satz, der mir viel geholfen hat: „Deine Vergangenheit ist versenkt im Herzen Christi. Deiner Zukunft nimmt Gott sich an. Du bist frei, um ganz in der Gegenwart zu leben“.

Achtsamkeit als Therapie

Die Übung der Achtsamkeit hat auch einen therapeutischen Aspekt, und das dürfte ein Grund sein, warum z. B. die Zen-Meditation hier im Westen populär ist. Wenn man die Aufmerksamkeit auf den Körper richtet: auf den Atem, auf die Hände usw., kann das eine krankmachende Introvertiertheit überwinden helfen. Das Grübeln über die Vergangenheit und die Sorgen um die Zukunft sein zu lassen, um in der Gegenwart zu leben, um ganz bei der Sache zu sein, das ist die Therapie, die viele Zeitgenossen brauchen.

Dass Jesus ein kluger Therapeut war, hat sich wohl inzwischen herumgesprochen. Lebt im Heute Gottes, will er uns in der Bergpredigt sagen: „Sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage“ (Matthäus 6,34). Wenn ihr einmal abends nicht einschlafen könnt, weil euch die Probleme des morgigen Tages durch den Kopf gehen, dann sagt euch einmal dieses beruhigende Wort Jesu vor. Ich bin sicher, es wird seine Wirkung tun.

Das wünscht euch

Euer Karl Neumann