34. Glaubensbrief - März 2009   PDF-Zeichen als PDF-Datei (147 kB)

Der Unschuldswahn

Unschuldswahn? Ein seltsames Wort für eine seltsame Sache. Es gibt doch viel eher einen Schuldwahn, eine wahnhafte Schuld. Und die Religion ist daran nicht unschuldig. Wie oft sind Menschen verklemmt und unfrei geworden durch ein falsches, neurotisches Schuldgefühl! Nicht zuletzt beim Thema Sexualität. „Es ist das Verdienst Freuds, dass Sexualität von der Last der Schuld befreit wurde“ (M. Mitscherlich).

Und trotzdem ist natürlich nicht jede Schuld wahnhaft und neurotisch.
Und trotzdem weiß jede Religion und jede Ethik von der Schuld des Menschen. Und fast jeder hat die Erfahrung gemacht, dass man Schuld auch verdrängen und nicht zugeben kann.

Plakataktion "Im Namen Jesu:
Lasset euch versöhnen mit Gott!"

Diese Tendenz zeigt sich besonders in einer Gesellschaft, die an die christliche Botschaft von der Vergebung der Sünden nicht mehr glauben kann. In dem Dokument „Unsere Hoffnung“ der katholischen deutschen Synode heißt es:

„Christentum widersteht mit seiner Rede von Sünde und Schuld jenem heimlichen Unschuldswahn, der sich in unserer Gesellschaft ausbreitet und mit dem wir Schuld und Versagen, wenn überhaupt, immer nur bei „den anderen“ suchen, bei den Feinden und Gegnern, bei der Vergangenheit, bei der Natur, bei Veranlagung und Milieu“.

So ganz falsch ist es nicht, die Ursachen unseres Versagens in Veranlagung und Milieu zu suchen. „Es sind die Gene!“ – „Es ist die Umwelt!“ kann man oft hören. Das mag gewiss einen Teil unseres Verhaltens erklären, Doch ist es kein Freibrief, der uns von der Verantwortung entbindet.

Da ist ein KZ-Wärter. Er hat Tausende von Häftlingen heimtückisch gequält und ermordet. Aber er fühlt sich völlig unschuldig. Er hat ja nur nach Befehl gehandelt. Es ist erschreckend, wie viele Naziverbrecher nicht das geringste Unrechtsbewusstsein hatten. Unschuldswahn!

„Ich habe niemand umgebracht!“

Doch ich will ein Beispiel nehmen, das uns näher liegt. Ich war zu Gast in einer Familie, wir kamen auf Schuld zu sprechen. Da sagte die Frau: „Was haben wir denn schon für Sünden getan? Wir haben niemand etwas gestohlen, haben keinen umgebracht. Wir leben als anständige Menschen!“. So denken viele, ihr vielleicht auch. Aber weil du eine saubere Weste hast und noch nicht mit der Polizei in Konflikt gekommen bist, ist Gott deshalb schon mit dir zufrieden?

Im letzten Brief hatte ich die Beispielgeschichte vom Pharisäer und Zöllner erwähnt. Der Pharisäer betete: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens“ (Lukas 18,11 f).

Der Pharisäer spricht ganz ähnlich wie die Frau, bei der ich zu Besuch war, oder wie die meisten von uns: Er ist kein Räuber, kein Ehebrecher, kein Betrüger – kurz: er hat eine saubere Weste. Sogar gute Werke kann er vorweisen: Fasten, großzügige Opfer für den Tempel... Er ist also besonders eifrig. Und doch sagt Jesus, dass Gott an ihm kein Gefallen hat.

Seltsam. Warum?
Weil der Pharisäer voll von Arroganz und Hochmut steckt. Das sind schlimme Sünden, aber sie sind schwer zu erkennen. Weil sie keine Verstöße gegen das Gesetz oder die zehn Gebote sind. Es sind überhaupt keine Einzelsünden, es ist eine falsche Haltung. Sein ekelhafter Stolz, dass er sich vor Gott hinstellt und vor ihm seine Gerechtigkeit ausbreitet. Und dass er diesen armen Kerl von Zöllner verachtet. „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie ... dieser Zöllner da“.

Die verborgene Schuld

Es gibt also offenbare Sünden, die man in Raum und Zeit festmachen kann, Verstöße gegen ein bestimmtes Gebot. Sie sind zwar unter Umständen schwer, aber man kann sie leicht finden und bereuen. Und es gibt verborgene Schuld, auch wenn man alle Einzelgebote hält, auch wenn man keinen Flecken auf seiner weißen Weste hat. Diese Schuld ist keine einzelne Tat, sondern eine falsche Haltung vor Gott. Eine Haltung, die tief im Herzen sitzt. Aber, wie Jesus sagt, „aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken... All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein“ (Markus 7,21.23). Unser Herz ist es, was Gott will. Unser Herz ist der eigentliche Sitz des Guten, und auch des Bösen.

Das hat mit der zentralen Stellung der Liebe zu tun.
Die Liebe in meinem Herzen, das ist es, was vor Gott zählt. Am klarsten ausgesprochen ist das im 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs: „Wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts“ (13,2).

Also auf die Liebe in meinem Herzen kommt es einzig an. Aber – nur Gott kennt wirklich mein Herz. Nur Gott kann adäquat wissen, wie viel Liebe in diesem meinem Herzen wohnt, das mir selbst zum Teil verborgen ist.

Wie der Pharisäer in unserem Beispiel zeigt: man selbst kann sich da sehr leicht etwas vormachen. Nur Gott kennt unser Herz.

Du brauchst zwei Spiegel

Menschen aus verschiedenem
Blickwinkel im Spiegel

Man spricht von Betriebsblindheit, vom blinden Fleck. Noch mehr: Das Auge sieht alles, nur sich selber nicht. Damit du dich selber richtig sehen kannst, brauchst du einen Spiegel. Ein Mitmensch kann der Spiegel sein, der dich deine verborgene Schuld sehen lässt – wenigstens zum Teil. Denn er sieht dich ja von außen. Die „lieben Mitmenschen“ kennen unsere Schwachstellen oft besser als wir selbst. Sie kennen manche Charakterfehler, mit denen wir vielleicht unserer Umgebung auf die Nerven gehen, und die uns selbst gar nicht auffallen.

Ein anderer Spiegel, in dem du dein wahres Gesicht und deine verborgene Schuld sehen kannst, ist Jesus Christus. Petrus hat vielleicht wunders gedacht, was für ein prima Kerl er wäre, bis er Jesus begegnet ist, der ihn zum Fischfang ausschickte. Als er das Wunder des reichen Fischfangs sah, fiel er Jesus zu Füßen und rief aus: „Herr, geh weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch“ (Lukas 5,8). In dem Licht Jesu sah er sich selbst: und was für eine lahme Ente er war. In dem Feuer Jesu merkte er, wie lau und matt sein eigenes Feuer war.

So findest auch du oft keine Schuld an dir. Bis du Christus begegnest, etwa in einem intensiven Gebet oder in der Lektüre der Bibel. Da merkst du, wie du eigentlich sein müsstest. Da wird dir deine verborgene Schuld bewusst. Und das ist schon der Anfang der Umkehr.

In der Freude der Vergebung leben

„Unschuldswahn“ habe ich diesen Glaubensbrief genannt. Wenn ich an keinen Gott glaube, der mir die Sünden vergeben kann, bin ich verdammt, auf ewig mit der Last meiner Schuld herumzulaufen. Dann versuche ich natürlich, die Schuld abzuschieben, zu leugnen und zu verdrängen: Unschuldswahn. Doch als Christ habe ich das nicht nötig. Ich kann meiner Schuld ins Auge sehen. Die Schuld bedeutet für mich keine Katastrophe, denn als Christ lebe ich aus der Vergebung. Ich kann zu meinem Vater gehen, ihm sagen: „Vater, ich habe gesündigt“ – dann wird aus der Schuld ein Freudenfest: die Heimkehr des Verlorenen Sohnes.

Es gibt im Kirchenjahr eine günstige Zeit, heimzukehren, die Freude der Vergebung zu erfahren. Das ist die Fastenzeit.

Dazu segne euch Gott.

Euer
Karl Neumann