17. Glaubensbrief - Oktober 2007   PDF-Zeichen als PDF-Datei (97 kB)

Das Vaterunser

„Herr, lehre uns beten!“ – so hatte ich den letzten Glaubensbrief genannt. Die Jünger hatten dies zu ihrem Meister gesagt, und auch wir hätten es nötig, zu sprechen: „Herr, lehre uns beten!“

Die Antwort des Herrn: „Wenn ihr betet, so sprecht...“ – und dann lehrt er sie das Vaterunser, allerdings in einer für uns etwas ungewohnten Form, doch darüber später.

Weil Jesus es selbst gelehrt hat, heißt das Vaterunser auch „das Gebet des Herrn“. Es ist zum bekanntesten Gebet der Christen geworden, das von allen christlichen Konfessionen gebetet wird und alle Jünger Jesu miteinander verbindet. Für viele ist es das einzige Gebet, das sie auswendig können (wobei für Katholiken oft noch das „Gegrüßet seist du, Maria“ hinzukommt). Wenn ich eine Beerdigung halte und die Trauergäste können am Grab das Vaterunser nicht mehr, dann weiß ich: hier fehlt es an der religiösen Grundversorgung.

Wie ein kleiner Papagei


Den Vater und seine Anliegen sehen

Weil es dermaßen bekannt ist, wird das Vaterunser oft gedankenlos gebetet, leider. Ich selbst konnte das Vaterunser schon, bevor ich seinen Sinn verstand, und habe es deshalb wie ein kleiner Papagei heruntergeplappert. Das geht auch Erwachsenen so. Weil man außer dem Vaterunser kein Gebet kennt, betet man es bei allen möglichen Gelegenheiten, und es wird dann einfach zu einem „Stück Gebet“, zu einer bestimmten „Menge Gebet“, die man durch Wiederholung beliebig vermehren kann. Über den Inhalt macht man sich dann herzlich wenig Gedanken. Darum ist es gut, dies hier einmal zu tun.

Das Vaterunser steht zweimal in der Bibel, in verschiedener Form. Die Form, die wir beten, findet sich im Matthäusevangelium, in der Bergpredigt (Matthäus 6, 9-13). Das Lukasevangelium bringt eine kürzere Fassung (Lukas 11, 2-4). Hat Jesus das Vaterunser in zwei verschiedenen Formen gelehrt? Und wenn nicht, welche der beiden Fassungen ist dann die ursprüngliche? Die meisten Bibelwissenschaftler nehmen heute an, dass die kürzere Form bei Lukas die ursprünglichere ist. Matthäus hat dann ganz im Geist Jesu seine Worte ein wenig verdeutlicht.

Jesus kommt im Vaterunser mit keinem Wort vor. Wir beten darin nicht zu Jesus, sondern zum Vater. Aber Jesus hat es gelehrt. Es ist ein Jüngergebet, das den Geist der Jüngerschaft enthält. Die Frage der Jünger hieß ja genau gesagt: „Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat“ (Lukas 11, 1). Das gibt es öfter, dass ein Meister seine Jünger ein Gebet lehrt, das wie ein Abzeichen ist, an dem sie sich gegenseitig erkennen, das sie zu einer Gruppe zusammenschließt, in dem der Geist des Meisters enthalten ist.

So ist im Vaterunser der Geist Jesu enthalten. Ich will das einmal zu zeigen versuchen.

Abba, lieber Vater

Gewiss, das Vaterunser ist eingebettet in die jüdische Gebetstradition (besonders Khaddish und Achtzehnbittengebet), aber zugleich atmet es die Originalität Jesu.

Das beginnt schon beim ersten Wort, das zugleich das wichtigste ist: „Vater“. Dieses Wort hieß im Munde Jesu „Abba“. Das ist eine sehr vertraute Anrede, mit dem z.B. Kinder ihren Vater anreden. An einigen Stellen des Neuen Testamentes, das sonst ganz auf Griechisch geschrieben ist, hat man dieses aramäische Wort noch stehen lassen. Weil es die einzigartige Beziehung ausdrückt, die Jesus zu Gott dem Vater hatte.

Und nun kommt das Wichtige: an dieser einzigartigen engen Beziehung zum Vater gibt er seinen Jüngern Anteil. Auch sie dürfen Gott Abba, Vater, nennen, wie Jesus ihn nannte. Denn sie sind nicht nur seine Jünger, sie sind seine Brüder und Schwestern. Die ganze Bergpredigt zeigt, wie wir als Kinder eines solchen Vaters leben sollen.

Hier muss ich einmal etwas Persönliches sagen. Warum beten wir immer noch, wenn wir das Gebet des Herrn sprechen: „Vater unser“? Im heutigen Deutsch müsste es doch heißen: „Unser Vater“. So steht es auch in der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Wenn ich das Vaterunser für mich bete, sage ich immer: „Unser Vater im Himmel“, und es geht mir mehr „unter die Haut“ als das vom Lateinischen übernommene „Vater unser“.

Zuerst Gottes Anliegen

Ein neuer Geist, eine neue Gottesbeziehung – das zeigt sich nicht nur im Vaternamen. Das Vaterunser ist ein Bittgebet, aber was für eines! Wir jammern Gott nicht die Ohren voll mit unseren kleinen privaten Wehwehchen, die uns doch immer so groß erscheinen. Gewiss, keine Not und kein Problem ist zu klein, um es vor Gott zu tragen. Die Bitte um das tägliche Brot steht zu Recht im Vaterunser. Aber bevor wir für unsere eigenen Anliegen bitten, lehrt Jesus uns, für Gottes Anliegen zu beten. „Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe ...“. Wenn wir dies tun, schafft es einen Abstand zu unseren Sorgen, stehen wir darüber, und das allein ist schon heilsam.

Gottes Reich, Gottes Wille: das sind die Ziele, für die Jesus gelebt hat. Das Reich Gottes anzukündigen, die Menschen dazu einzuladen, dazu ist er gekommen. Und den Willen seines Vaters zu tun, das war ihm oberstes Gesetz, auch als er erkannte, dass der Wille seines Vaters Kreuz und Sterben hieß. „Wer den Willen meines Vaters tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter“ sagte er einmal (Markus 3, 35). Diese großen Anliegen Jesu sollen also auch die Anliegen seiner Jünger sein, und ihr erster Gebetswunsch. Ich fürchte, es fehlt noch viel, bis wir so vom Geist Jesu erfüllt sind, dass diese „Anliegen Gottes“ auch unsere ersten Bitten werden. Aber erst dann hätten wir das Vaterunser wirklich verstanden.

Im Heute Gottes leben

Aus dem zweiten Teil möchte ich nur eine Bitte herausgreifen: „Gib uns heute unser tägliches Brot“. Mich hat beeindruckt, wie Frère Roger von Taizé diese Bitte deutet: Jesus lehrt uns, nicht für morgen zu bitten, sondern für heute.

„Sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen“ sagt Jesus in der Bergpredigt (Matthäus 6, 34). Wir sollen „das Heute Gottes leben“ – so heißt eine Schrift von Frère Roger. So wie Jesus vertrauend und froh im Heute Gottes gelebt hat und uns daher beten lehrte: „Gib uns heute das Brot, das wir brauchen“ (so lautet die Vaterunserbitte in der Einheitsübersetzung). Befreit von allem Grübeln über das Gestern und aller ängstlichen Sorge für das Morgen, kann der Jünger im Heute leben. Wer das einmal versucht hat, weiß, dass es wie ein Aufatmen nach einer schweren Last ist.

Das ist der Geist Jesu, der Geist der Kindschaft, der aus jeder Zeile des Vaterunser spricht. Eigentlich viel zu schade, um es gedankenlos herunterzubeten!

Das meint jedenfalls

euer Karl Neumann

P.S.: Zum Schluss noch eine gute Nachricht: Der erste Teil meiner Glaubensbriefe, den ich „Schnupperkurs Glauben“ nannte, ist jetzt als Buch erschienen.
Er heißt jetzt „Sehnsucht nach mehr. Ein Glaubenskurs für Neugierige“,
hat 115 Seiten, kostet € 9,90 und kann bestellt werden bei:

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