14. Glaubensbrief - Juli 2007   PDF-Zeichen als PDF-Datei (100 kB)

Wie ich beten lernte

Ich komme mir, ehrlich gesagt, etwas komisch vor, dass ich schon seit Jahren jeden Monat einen neuen Glaubensbrief ins Netz stelle, und habe noch so gut wie nie das Beten zum Thema genommen. Außer einmal: im „Schnupperkurs Glauben“ im 11. Brief („Stell die Antennen auf Empfang“). Dabei gehört das Gebet zum wesentlichen Kern des christlichen Glaubens. Und nicht nur des christlichen. Als ich in Japan lebte, ging ich jedes Jahr am Neujahrsfest zum Tempel der Shinto-Religion. Das taten die meisten Japaner. Eine Menschenmenge, die nach Zehntausenden zählte, drängte sich um Mitternacht, als das Neue Jahr anfing, in dem Gelände des Heiligtums der Shinto-Götter. Aber in Japan herrscht Ordnung und Disziplin! Da gab es kein Drängeln und kein Schieben. Reihe um Reihe rückten sie vor. Die Reihe, die vorne am Heiligtum angekommen war, verbeugte sich, warf eine Münze oder auch einen Geldschein auf die bereitliegenden Tücher, danach klatschte jeder die Hände zusammen und sprach leise ein Gebet. Schon nach einigen Sekunden ging man zur Seite, und die nächste Reihe rückte vor.
„Was betet ihr denn da?“ fragte ich meine Studenten, die natürlich auch jedes Jahr dabei waren. „Wir beten etwa folgendes: Kamisama (= Gott oder Götter), lass das neue Jahr ein gutes Jahr für mich und meine Familie werden. Bewahre mich vor Krankheit und gib, dass ich meine Prüfungen gut bestehe.“ – Ich finde, von der japanischen Art, Silvester und Neujahr zu feiern, könnten viele Christen noch einiges lernen.

Beten für irdischen Profit


Mit der Mutter beten lernen

Kommen wir zum Christentum. Manche fragen: „Was soll ich tun? Ich kann nicht (mehr) beten!“ Vielleicht meinen sie nur: „Beten habe ich als Kind gelernt. Aber ich kann meine alten Kindergebete nicht mehr beten. Das ist mir zu dumm!“. Ich meine: Das Beten muss sich ändern, wie der ganze Mensch sich ändert. Fangen wir mit der Kindheit an. Ich persönlich habe als Kind beten gelernt. Meine Mutter kam jeden Abend zu uns ans Bett und betete mit uns. Und nach dem Beten gab sie uns einen Gute-Nacht-Kuss, dann schliefen wir friedlich ein. Bald konnten wir diese Gebete auswendig und konnten sie selber beten. Ich weiß noch, wie ich stolz wie Oskar war, denn ich war noch sehr klein und konnte doch schon das Vaterunser auswendig. Vor meinen Onkeln und Tanten musste ich es aufsagen, so wie man ein Gedicht aufsagt. Und ich bekam sogar kleine Geschenke dafür. Ich gebe es ja ungern zu, aber solcher irdische Profit stachelte meine Frömmigkeit gewaltig an!

Dann kam die Zeit der Pubertät, wo ich all das gedankenlos auswendig hergesagte Zeug hasste und in meinem Innern Probleme fand und auch einen Reichtum entdeckte, den ich vorher nie gekannt hatte. Ich fand, dass man auch mit eigenen Worten aus dem Herzen heraus beten kann. Dass man so mit Christus sprechen kann, wie man mit einem Freund spricht. Und ich konnte in dieser Weise lange beten. Natürlich verschwanden auch die Gebete nach festen Texten nicht, allein schon deshalb, weil wir viel gemeinsam beteten.
Aber auch in Gemeinschaft kann man frei aus dem Herzen beten, und zwar laut, so dass alle es hören. Diese Art zu beten ist in der katholischen Kirche eher selten, ich habe sie in den Gebetsgruppen der Charismatiker und der Pfingstkirchen erfahren.

Mit Gott in der Sonne sitzen

Schließlich wird man älter. Und da entdeckte ich eine dritte Art, zu beten – eine dritte Stufe sozusagen. Ich entdeckte das schweigende Gebet. Es ist, wie wenn zwei Eheleute alt werden. Ihre Liebe ist reif und tief, aber sie haben sich nicht viel Neues zu sagen. Jeder kennt den anderen, da braucht es nicht viele Worte. Sie sitzen vielleicht zusammen auf der Bank in der Sonne und schweigen.
So ist es auch beim Gebet. Man hat Gott nicht mehr viel zu sagen. Aber auch ohne Worte kann man sozusagen neben ihm auf der Bank sitzen. Man kann sich bewusst werden, dass er jetzt hier ist, dass ich alles, was ich tue, unter seinen liebenden Augen tue. Seine Gegenwart gibt mir Frieden.
Natürlich kann man Gott nicht sehen und hören, daher schweifen die Gedanken leicht ab. Die Achtsamkeit kann verloren gehen. Da ist es gut, einen kurzen Satz zu wiederholen. Man kann sich selber einen suchen. Ich persönlich wiederhole gern langsam und ruhig den Satz: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“, oder einfach „Jesus Christus“.
Ein solcher Mini-Satz ist wie ein Geländer, an dem man sich festhalten kann, dass man auf dem Weg bleibt. Und wenn man abgekommen ist, fasst man das Geländer wieder an, und es geht wieder.

Dies sind die drei Stufen des Betens, die ich im Lauf meines Lebens gelernt habe. Es war aber nicht so, dass, wenn ich eine neue Stufe erreichte, ich die früheren einfach hinter mir gelassen hätte. Auch heute noch bete ich Gebete, die ich auswendig kann oder die ich ablese. Und ich bete in einer guten Stunde Gebete, die mir spontan aus dem Herzen kommen. Alle drei Stufen können nebeneinander bestehen.

Lerne auf IHN zu warten

Zum Schluss ein Wort von Frère Roger von Taizé über das Beten, das mir viel geholfen hat und das gewiss auch dir helfen kann:

„Lerne auf IHN zu warten,
mit oder ohne Worte,
in langen Zeiten des Schweigens,
in denen sich scheinbar nichts ereignet.
Doch da geschieht es,
dass tief verwurzelte Enttäuschungen sich langsam auflösen,
dass schöpferische Impulse wie Quellen aufspringen.
Nichts kann sich in dir aufbauen ohne dieses Abenteuer,
ihn in der Intimität einer persönlichen Begegnung zu finden.
Niemand kann das für dich tun.“

Dass du dieses Abenteuer einer persönlichen Begegnung im Gebet erlebst,
das wünsche ich dir von Herzen

dein Karl Neumann