5. Glaubensbrief - Oktober 2006 als PDF-Datei (112 kB)
Nur ein
Märchen Es war kurz nach dem Krieg, im Jahr 1945 oder '46, da bekam ich zu Weihnachten ein Buch geschenkt. Es waren Tiermärchen. Ich konnte noch nicht lesen, mein Vater musste sie mir vorlesen. Ich wurde größer, das Buch lag irgendwo im Schrank, schließlich entdeckte ich es wieder: arg zerrissen. Gott sei Dank war der letzte Teil noch erhalten. Er enthielt nämlich die Geschichte, die sich mir unauslöschlich eingeprägt hatte: „Pit Pikus und die Möwe Leila“. Sie machte auch noch, als ich erwachsen wurde, tiefen Eindruck auf mich. Wenn ich sie Kindern vorlas, wurde es mucksmäuschenstill. Leider war die erste Hälfte des Buches samt dem Titelblatt verloren gegangen. Ich wusste also weder den Verfasser noch den Titel des gesamten Buches.
So begann ich die Suche. Leider ohne Erfolg. Selbst in der riesigen Kinder- und Jugendbibliothek in München konnte ich es nicht finden. Ich hatte schon aufgegeben, da kam mir im vergangenen
Jahr die
Idee, es einmal im Internet zu versuchen. Ich tippte auf gut
Glück
die Worte ein „Pit Pikus und die Möwe
Leila“ –
und siehe da: die ganze Geschichte stand im Internet, dazu der
Verfasser. Ihr könnt es selbst ausprobieren. „Pit Pikus und die Möwe Leila“ ist die Geschichte einer tiefen Freundschaft über die Grenzen von Hass und Vorurteil hinweg. Denn die Welt des jungen Spechtes Pit Pikus ist völlig verschieden von der Welt der jungen Möwe Leila. Kein Wunder, dass die erwachsenen Spechte kein Verständnis haben für die weiße Möwe, die verletzt und flügellahm auf den moosigen Boden des Waldes Grünenacht gefallen ist. Sie scheint ein Wesen aus einer anderen Welt, wovor man Angst hat. „Man muss sie töten!“ Nur der kleine Pit hat seine Menschlichkeit (wenn ich so sagen darf) noch nicht verloren. Er pflegt sie, und als die Spechte sie allen Ernstes töten wollen, wählt er lieber das Leben mit seiner Freundin als mit seinem eigenen Volk und flieht mit ihr in das Land der Möwen. Doch hier spürt er, wie fremd die Welt der
Möwen
für ihn ist. Wie vorher Leila beim besten Willen die leckeren
Käfer nicht fressen konnte, die Pit ihr gab, so kann Pit Pikus
jetzt die leckeren Fische, die Leila ihm bringt, nicht
hinunterschlucken. Aber schlimmer noch: Wie das Volk der Spechte das
fremde Wesen töten wollte, so jetzt das Volk der
Möwen den
Fremdrassigen, den „schwarzen
Waldteufel“.
Nur der junge Specht und die junge Möwe sind immun gegen solche grausamen Vorurteile. Sie schließen Freundschaft über alle Grenzen hinweg, und meistern alle Hindernisse, die das mit sich bringt. Die deutschen Kinder, für die das Buch ja in erster Linie geschrieben ist, sind die Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft. Doch die Geschichte ist durchaus nicht mit erhobenem
Zeigefinger geschrieben. Auch ohne diese meine spätere Deutung
habe ich sie als Kind mit tiefer Anteilnahme gelesen. Pit Pikus ist wieder zum Volk der schwarzen Spechte
zurückgekehrt. Aber er wird nicht mehr akzeptiert, er ist
keiner
von ihnen mehr. Man beißt ihm die Sehnen der Flügel
durch,
damit er nicht wegfliegen kann. Aber er will zu Leila. Und er macht
sich auf den weiten Weg, flügellahm. Auch seine Krallen muss
er
noch weggeben, ja sein Herz, eines seiner Augen. Aber er erreicht sein
Ziel. Mit dem Wiedersehen zwischen Leila und ihrem Freund, der fast
alles für sie hingeopfert hat, endet die Geschichte. Euer Karl Neumann |