4. Glaubensbrief - September 2006   PDF-Zeichen als PDF-Datei (125 kB)

Im Käfig
 

Antoine de Saint Exupéry hat nicht nur den „kleinen Prinzen“ geschrieben. Auch sein Leben fasziniert mich. Dieser Mensch hasste die Enge. Er liebte die Weite des Luftraums - als Pilot. Und er liebte die unbegrenzte Weite der Wüste. Er kannte die Wüste, denn er hatte in der Sahara gelebt. Er kannte auch die scheuen Bewohner der Wüste: die Gazellen. In ihnen spürte er den gleichen Drang nach Freiheit. Sie fühlten sich nur in der unendlichen Weite der Wüste zuhause. Doch man konnte sie zu zähmen versuchen, wenn man sie jung aufzog. „Wenn du sie aber jung einfängst, bleiben sie am Leben und fressen dir aus der Hand. Sie lassen sich streicheln und bohren dir die feuchte Muffel in die Hand. So hältst du sie für gezähmt.


Die Weite der Wüste

Doch es kommt der Tag, an dem sie ihre kleinen Hörner gegen das Gitter pressen, zur Wüste hin. Sie werden magnetisch angezogen. Sie wissen nicht, dass sie dich fliehen. Sie trinken die Milch, die du ihnen bringst, sie lassen sich weiter streicheln, sie bohren noch zärtlicher als bisher ihre Muffel in deine offene Hand. Doch kaum lässt du sie los, so wirst du gewahr, dass sie nach einem anscheinend glücklichen Galopp wieder zum Gitter zurückkehren. Und wenn du nicht eingreifst, bleiben sie dort, versuchen nicht einmal, gegen das Hindernis anzukämpfen, sondern drücken bloß mit gesenktem Nacken ihre kleinen Hörner dagegen. Solange, bis sie sterben. Das, was sie suchen - du weißt es - , ist die Weite, die sie vollenden wird. Sie wollen Gazellen werden, und ihren Tanz tanzen. Mit 130 Kilometern in der Stunde wollen sie die geradlinige Flucht kennen lernen, die von kurzen Sprüngen unterbrochen wird, als wenn hier und da Flammen aus dem Sand hervorbrächen... Du blickst sie an und denkst: Jetzt hat sie das Heimweh gepackt.“

Ich habe manchmal das Gefühl, eine Gazelle zu sein, die man eingesperrt hat. Ich habe mich an das Leben im „Käfig“ gewöhnt, und meistens spüre ich ihn gar nicht mehr. Er ist ja auch ganz angenehm, dieser Käfig. Futter ist genügend vorhanden, ein Ruheplatz auch. Ist das nicht das Wichtigste? Und die anderen denken ja auch so. Sie suggerieren dir, wie schön du es doch hast in deinem goldenen Käfig.

Doch dann packt dich eines Tages das Heimweh, wie die gefangene Gazelle. Du spürst, bildlich gesprochen, den Wind der Wüste. Und du fühlst, dass der Käfig nicht dein Zuhause ist, so golden er auch sein mag. Du ahnst tiefere Schichten in dir, die sich gegen deinen genormten und gezähmten Alltag sperren. Du weißt mit einem Mal, dass die Welt größer ist als die kleine Ecke, die du bewohnst, und dass dein Inneres tiefer und weiter ist als das Gewohnheitstier, das man aus dir gemacht hat. So wie die Gazelle spürt, dass sie für die Weite der Wüste geboren ist. Das ist ihre Bestimmung. Und sie findet sich mit dem Gefängnis nicht ab. Lieber sterben.


Die Enge des Käfigs

Wir sind keine Gazellen. Wir sind anpassungsfähiger. Das ist unsere Überlebenschance, aber auch unsere Gefahr. Wir lassen uns wie ein Vogel einsperren, wir passen uns an an eine künstliche Welt. Ach, der Käfigvogel hat noch eine ganz dumpfe Erinnerung daran, dass er nicht für den Käfig gemacht ist - eine Erinnerung, die immer mehr schwindet. Nur in manchen Augenblicken, wenn er die Schreie der wilden Kameraden hört, erinnert sich der Vogel daran, dass er einmal in der weiten Freiheit gelebt hat, aber es ist nur ein kurzes Wetterleuchten in seinen Pupillen, und bald wieder hat die Gewohnheit alles verschlungen.

Doch so muss es nicht sein. Jesus verbrachte 40 Tage in der Wüste. Wollte er dem Käfig entfliehen und erfahren, was Weite ist und Unendlichkeit? Er ging auf einen Berg, um zu beten. Wollte er spüren und erleben, wie klein die Welt der Menschen ist, die tief unter ihm lag? Wollte er Abstand gewinnen von all dem und seinem Vater nahe sein? Auf dem Berg verbrachte er ganze Nächte im Gebet zu seinem Vater. Hat er den Sternenhimmel angeschaut, den unendlichen Raum über ihm, der dennoch Geborgenheit ausstrahlt? Gott ist der Unendliche, der Grenzenlose, er ist die Weite. Können wir ihn vielleicht deshalb so wenig erfahren, weil wir uns einsperren lassen in den Hühnerstall unserer kleinen Welt?

Mit einem herzlichen Gruß

Euer Karl Neumann