Jesus der Provokateur
"Was ich von Jesus halte? Für mich war er ganz
einfach dumm. Er war ein blauäugiger Idealist, er ging für seine Ziele
mit dem Kopf durch die Wand. Wenn er klug gewesen wäre, hätte er den
Konflikt mit seinen Gegnern vermeiden können und er hätte sich den
Kreuzestod erspart."
Das schrieb einer meiner Studenten in Japan. Ich
hatte sie gebeten, einmal ganz ehrlich und ohne Namen zu schreiben, was
sie von Jesus denken. Nun, diese Studenten waren keine Christen. Und es
waren auch ganz andere Stimmen darunter
Ich entdeckte einen ganz anderen Jesus
Für mich selbst kam eigentlich im Alter von etwa 18
Jahren eine Zeit, wo ich Jesus neu entdeckt habe. Vorher war er noch
mehr oder weniger der "liebe Heiland", zu dem meine Mutter
mich beten gelehrt hatte. Er war der angepasste Kirchenchristus, der
abgehobene Gottessohn, der über die Erde ging, einfach alles wusste und
alles konnte. Was er mich lehrte, war, brav zu sein und die staatlichen
und kirchlichen Gebote zu befolgen.
Dann kam die Zeit, wo ich einen neuen Jesus
entdeckte. Ich entdeckte ihn in den Evangelien. Ich fing nun an, selber
darin zu lesen, und zwar das Ganze, und nicht nur die Auszüge, die in
der Schulbibel gestanden hatten oder die man in der Kirche hörte. Was
ich entdeckte, faszinierte mich - und fasziniert mich noch heute.
Jesus unter Superfrommen
Es war ein jugendlicher Jesus. Wie sollte er auch
anders sein, wenn er nicht älter als etwa 33 Jahre wurde? Ich sehe ihn
in einer verknöcherten Gesellschaft, die superfromm war, aber voller
Vorurteile, und zwar frommer Vorurteile.
Es muss ein Spaß gewesen sein, eine solche
Gesellschaft aufzumischen. Aber Jesus tat es nicht aus Spaß. Er fing
an, die Leute zu provozieren.
Ein Gleichnis, das es in sich hat
Zum Beispiel hat er ein Gleichnis erzählt. Es gab eine Straße, die
führte von der Hauptstadt Jerusalem hinunter
ins Jordantal. Ich bin vor einigen Jahren diese Straße selbst gefahren,
in einem klapprigen Linienbus. Sie führt in unzähligen Kurven durch
eine menschenleere Gegend, links und rechts sieht man nur Stein- und
Felsenwüste. Ein idealer Ort für Raubüberfälle. Jesus erzählt dann
von einem solchen Raubüberfall. Ein Mann wurde ausgeraubt und halbtot
an der Straße liegengelassen. Ein jüdischer Priester kam vorbei, sah
ihn da liegen - und machte, dass er weiterkam. Ebenso ein Levit (ein
Tempeldiener). Auch er sah ihn in seinem Blut liegen und ging ohne zu
helfen vorbei. Schließlich kam ein Mann vorbei, der gar kein richtiger
Jude war. Er gehörte dem Volk der Samariter an, den Erzfeinden der
Juden. Dieser Mann, der nun am wenigsten Grund gehabt hätte, sich für
einen Juden die Finger schmutzig zu machen, er sah den Halbtoten, hielt
an und half ihm. (Sie können die Geschichte nachlesen im
Lukasevangelium Kapitel 10, Vers 30 bis 37.)
Ein Schlag ins Gesicht
Das war ein Schlag ins Gesicht für die
Priesterklasse, für die Tempeldiener, ja für alle frommen Juden, die
stolz darauf waren, Juden zu sein. Ausgerechnet der Ausländer, dazu
noch der Erbfeind, der am wenigsten Grund hatte zu helfen, er half. Und
die frommen Leute, die vielleicht viel von Liebe predigten, die halfen
nicht, obwohl es dazu noch ihr Volksgenosse war.
Das war Jesus. Er hat diese Geschichte, obwohl
Ähnliches oft und oft passiert sein mochte, bewusst so ausgestaltet. Er
hatte keine Angst, zu provozieren. Unser japanischer Student hat recht:
klug war er nicht, wenn Klugheit meint, möglichst glatt durchzukommen
und sein Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Wer ist mein Nächster?
Aber Jesus hat diese Geschichte natürlich nicht
erzählt, um die Leute zu ärgern. Er hat provoziert, um sie
wachzurütteln aus ihren Vorurteilen. Er wollte ihnen sagen: Bildet euch
nichts darauf ein, Priester oder Tempeldiener oder Juden zu sein. Es
gibt Leute, die keine Juden sind, ja die ihr für eure Erbfeinde haltet,
die sind besser als ihr. Und Nächstenliebe darf sich nicht darin
erschöpfen, dem "Nächsten" zu helfen, also den Verwandten,
den Bekannten, den Volksgenossen. Sondern es ist so: der Mensch, der mir
an meinem Weg begegnet, der ist mein Nächster, auch wenn er mir der
Fernste scheint.
Mit frohen Grüßen
Ihr Karl Neumann
neumann@glaubensinformation.de |