Karl Neumann: Glaubenskurs OnlineVierter Brief, März 2003:

 

Glaube auf dem Drahtseil

So viele junge Leute, die mit der Zeit gehen, streifen ihren Glauben ab wie ein altes Hemd. Ist der Glaube etwas für Kinder und kindlich gebliebene Menschen? Ist er im Grunde überholt und deshalb heute von den meisten aufgegeben? Das war das Problem am Ende des letzten Briefes - ein ganz wichtiges Problem. Aber neben der Shell-Jugendstudie, die ich als Antwort nannte, muss ich nun doch noch etwas mehr sagen.

Glaube nach Darwin und Einstein

Es gibt tatsächlich einen überholten Glauben, der kindlich und kindisch ist. Es ist richtig, dass die Jugendlichen diesen Kinderglauben, der noch voller Märchen steckt, aufgeben. Doch falsch ist, dass sie das Kind mit dem Bade ausschütten und den Glauben ganz über Bord werfen, vielleicht weil sie keinen anderen Glauben kennen als ihren Kinderglauben. Wie sich das Kind zum Mann oder zur Frau entwickelt, muss und kann sich auch der Glaube von einem kindlichen zu einem erwachsenen Glauben entwickeln.

Was von der Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen gilt, gilt auch von der Entwicklung der Menschheit als ganzer. Auch die Menschheit hat eine Entwicklung mitgemacht, und wir können nicht mehr so glauben wie im Mittelalter. Wir können nach Galilei, Kant, Darwin und Einstein nicht mehr so glauben wie vorher. Können nach der historisch-kritischen Bibelwissenschaft die Bibel nicht mehr so naiv lesen wie davor. Ich denke, das muss man alles zugeben, wenn man heute seinen Glauben "verteidigen" will. Es muss ein Glaube des Jahres 2003 sein, an dem wir Christen festhalten, und ich bin sicher, es gibt einen solchen Glauben.

Ich als Theologe muss manchmal lächeln, nicht nur über den kindlichen Glauben unserer Schulkinder, sondern auch über den Glauben vieler einfacher Leute. Ich könnte nicht auf die heilende Kraft von Lourdeswasser schwören, nicht an manche Erscheinungen glauben, an die sie glauben, mir nicht so viel von Wallfahrten, Ablässen und Segnungen versprechen wie sie.

Auf der anderen Seite wird es mir nicht weniger unwohl, wenn ich den Glauben mancher liberaler Theologen ansehe. Was glauben die überhaupt noch?, frage ich mich manchmal.

Was heißt das? Zunächst einmal, dass es viele Arten zu glauben gibt. Es gibt den Glauben der Kinder, der mit Fug und Recht kindlich ist. Es gibt den Glauben der einfachen Leute, der ruhig einfach sein darf und der manches Gerümpel mitschleppt, das streng genommen gar nicht dazu gehört. Und es gibt den Glauben der Intellektuellen, der bisweilen etwas blutleer ist.

Weil es viele Arten zu glauben gibt, ist darum aber noch nicht jede Art gleich richtig und gut. Jede Art hat auch ihre eigenen Gefahren. Wenn der Glaube der Kinder nicht rechtzeitig von Märchenelementen gereinigt wird, wird der Heranwachsende ihn durchschauen und wegwerfen. Der Glaube der "einfachen Leute" wiederum ist in Gefahr, zu einem Aberglauben zu werden. Ein erwachsener Christ kann eben im Jahre 2003 nicht mehr glauben wie im Mittelalter oder vor 100 Jahren, die Aufklärung kann an seinem Glauben nicht spurlos vorübergehen.

Aber wieviel Aufklärung verträgt der Glaube? Hier ist die Gefahr des Intellektuellen, dass sein Glaube vom Wasser der Aufklärung ausgewaschen und weggespült wird. Ich kenne einen gläubigen Jugendlichen, der Theologie studierte und da in seinem Glauben tief verunsichert wurde. Der Volksglaube von Zuhause trug nicht mehr. Aber in der aufgeklärten Glaubenslehre der Wissenschaft erkannte er seinen altvertrauten Glauben nicht mehr wieder.

Wie unterscheide ich richtigen und falschen Glauben?

Es gibt also zwei Extreme, zwei Gefahren: dass ich mich gegen alle Aufklärung sperre und an einem Glauben von vorgestern festhalte (man nennt das Fundamentalismus). Und dass ich andererseits einen so "aufgeklärten" Glauben vertrete, dass nicht mehr viel davon übrig bleibt. Wie kann ich hier die richtige Mitte finden, dass ich nach keiner Seite vom Drahtseil stürze? D.h. wie finde ich einen Glauben, der auf der einen Seite wirklich von heute und auf der anderen Seite noch wirklich christlicher Glaube ist?

Die Antwort scheint einfach: Wenn es christlicher Glaube sein soll, muss er der Bibel entsprechen. Die Bibel ist der Maßstab.

Doch viele berufen sich auf die Bibel und lehren dabei Gegensätzliches, ja Widersprüchliches. Wer deutet also die Bibel? Wer sagt, ob eine bestimmte Deutung noch christlicher Glaube ist oder nicht?

Die katholischen Christen sagen: Es muss eine solche Instanz geben, sonst wären wir hilflos dem Irrtum und der Unsicherheit ausgeliefert. Dies kann nicht die Wissenschaft sein, obwohl sie sehr wichtig ist, sonst hinge unser Glaube völlig vom momentanen Stand der Wissenschaft ab. Es ist vielmehr der Glaubenssinn der ganzen Kirche. Es gibt in der Kirche ein Dienstamt der Einheit, und zu diesem Dienstamt gehört es, auch für die Einheit im Glauben zu sorgen. In ihm ist der Glaubenssinn der ganzen Kirche verkörpert. Dieses Lehramt, wie wir es auch nennen, gibt die Orientierung, die rechten Glauben von falschem Glauben scheidet (um es einfach zu sagen).

Vielleicht zucken Sie zusammen, wenn Sie das Wort "Lehramt" hören und denken: Aha, darauf wollte er also hinaus! Doch wie bei allen menschlichen Einrichtungen muss man auch beim Lehramt Theorie und Praxis unterscheiden: die Idee und deren Verwirklichung. Ich bin durchaus kritisch dagegen, wie das Lehramt oft in der Geschichte verwirklicht wurde, bis in die Gegenwart hinein. Aber die Idee halte ich für nicht so schlecht, und sie ist es wert, dass man sie einmal vorurteilslos betrachtet. Sie ist tatsächlich eine Antwort auf unsere große Frage, wie man den Glauben immer neu der Zeit anpassen kann, ohne dass er seine Identität als christlicher Glaube verliert. .

Aber vergessen Sie ruhig die Geschichte mit dem Lehramt, wenn Sie damit nichts anfangen können. Wichtig ist mir dies: Der Glaube hat viele Gesichter. Finden Sie das ganz persönliche Gesicht Ihres Glaubens. Und doch ist der Glaube nicht willkürlich. Sie erfinden ihn nicht. Sonst könnte er Ihnen kein Halt sein. Denn Sie können sich nicht selbst wie Münchhausen aus dem Sumpf herausziehen. Ein anderer ist es, der Sie herauszieht. Auf ihn sich verlassen, das ist Glaube.

Diesen Glauben wünsche ich Ihnen, liebe Freunde

Ihr

Karl Neumann

karlneumann@glaubensinformation.de

 

Der Glaube kann Ihnen Halt geben. Er ist ein Halt gerade dann, wenn Sie so etwas dringend brauchen. Aber er ist nicht starr. Er kann Ihr ganz persönlicher Glaube werden.