Erster Glaubensbrief, Dezember 2002:

Gottes Karteileiche

 

Es ist noch nicht allzu lange her, da blätterte ich beim Friseur in den Illustrierten. In einer stand folgendes:

Als Kind war ich Ministrant, und noch heute fällt es meinem Körper ein, Kreuzzeichen zu schlagen, wenn ich auf Friedhöfen bin. In unserer Kultur wird man aufs Christentum abgerichtet, katholisch im Süden, protestantisch im Norden, das schüttelt man nie wieder ab. Glauben ist etwas anderes. Glauben heißt, die Bibel für mehr als ein nur menschliches Buch zu halten, auf Wunder zu hoffen und darauf, dass nach dem Tod die Seele überlebt, von der Existenz eines höheren Wesens überzeugt zu sein, das es gut mit uns meint. Glauben heißt auch, darauf zu vertrauen, dass Leiden Sinn macht... Wer glaubt, glaubt an letzte Dinge, selbst wenn er sich im Alltag nicht einmal mit den vorletzten beschäftigt. Glaube ich also? Nein.
Ich kann bloß die Gebete noch sprechen, wie ich immer noch alte Beatles-Lieder singen kann, auch wenn ich sie Jahre nicht mehr gehört habe..., und ich kann mich noch genau erinnern, wie sich Messdiener-Gewänder anfühlen, schwer und dick und ein wenig kratzig auf der Haut.
Aber ich bin abgefallen. Ich würde nie und nimmer erwarten, dass irgendein Gott meine Gebete erhören will. Wenn ich nachdenke, rede ich alleine mit mir, immer im Kreis herum, kein Notausgang aus meinem Ich. Die Kerzen, die ich anzünde, brennen für niemanden. An Erlösung zu glauben, habe ich mir längst abgewöhnt. Das Einzige, was mich mit der Kirche verbindet, ist der Kirchensteuerabzug. Ich bin zu faul oder zu sentimental auszutreten, eine von Gottes Karteileichen. Ach nein: Mit Gott hat das gar nichts zu tun."
(Peter Praschl in Amica)

 

Viele treten aus, wenige treten ein

Ich kenne viele, denen es ähnlich geht. (Einer meiner besten Freunde - er lebt leider nicht mehr - war Atheist, das tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. Im Gegenteil, es ergab interessante Diskussionen.) Für viele war das Christentum nur Dressur. Als Kinder wurden sie so „abgerichtet", haben es aber nie verstanden. Weil es nie verstanden wurde, flog es als unnötiger Ballast über Bord, als sie erwachsen wurden.
Im Jahre 2001 sind 113.724 Personen aus der katholischen Kirche ausgetreten, 12.460 wurden wieder aufgenommen oder traten aus anderen Glaubensgemeinschaften über. Also auf einen, der (wieder) eintritt, kommen etwas mehr als neun, die austreten...
Das ist die Situation. Wir Christen erscheinen als verlorenes Häufchen mitten in einer Welt, die immer mehr ungläubig wird.

Warum sollte man sich in dieser Situation für den Glauben interessieren?
Wegen der Kirche? Dem Papst?
Dieser alte gebückte Mann mag ja manchem imponieren in seiner Zähigkeit und Willenskraft, in seinem Bemühen um Frieden im Nahen Osten oder um die Menschenrechte in Kuba - aber seine religiösen Ansichten? „Indiskutabel", sagen die meisten.
Im Übrigen macht die Kirche mehr durch Skandale von sich reden als durch positive Nachrichten.
Wegen dieser Kirche glauben? Nein.
Ist der Zustand der Welt vielleicht ein Argument? Genausowenig. Wo sieht man in dieser Welt die Vorsehung eines „lieben Gottes"? Gewiss nicht ohne eine gute Brille, die nur die Gläubigen tragen.

 

Religiöses Light Food

Auf der anderen Seite: Sind sich die vielen, die nicht glauben, ihres Unglaubens wirklich so sicher? So wie der Glaubende heute oft an seinem Glauben zweifelt, so zweifelt nicht selten der Ungläubige an seinem Unglauben. Ja, man muss fragen: Gibt es überhaupt viele Ungläubige? Mir scheint, die meisten haben einfach über weltanschauliche Fragen noch gar nicht viel nachgedacht. Sie ernähren sich von religiösem Light Food. Man kann sie weder gläubig noch ungläubig nennen. Sie folgen dem Trend, und der ist heute gegen das Christentum.

Dass Glauben nicht im Trend liegt, hat vielleicht auch seine Vorteile. Um gegen den Strom zu schwimmen, braucht es mehr Mut als mit dem Strom zu schwimmen. Man ist dann kaum in Gefahr, oberflächlich zu werden. Wer sich sein eigenes Urteil bildet, imponiert mir mehr als einer, der immer dem Trend nachläuft.

Glauben Sie nun nicht, ich wolle alle, die nicht glauben, als gedankenlose Mitläufer hinstellen. Das wäre natürlich falsch. Ich meine nur, dass viele Menschen sich über Fragen der Weltanschauung herzlich wenig Gedanken machen. Und viele irgendwo zwischen Glauben und Unglauben angesiedelt sind.

 

Meine Favoriten

Das wären eigentlich die Gesprächspartner, die ich mir vorstelle. Dieser „Schnupperkurs" ist nicht für Kirchenchristen gedacht. Die haben genug andere Gelegenheiten. Sondern für Menschen, die der Kirche fernstehen, die aber mit ihrer Weltanschauung noch nicht fertig sind, die nicht überzeugt sind, das Ei des Kolumbus schon gefunden zu haben. Die eine unbestimmte Sehnsucht haben nach mehr.

Ich muss wieder an meine Illustrierte beim Friseur denken. Der Artikel, von dem ich gesprochen habe, schließt so:

„Manchmal, wenn ich in fremden Städten bin, suche ich Kirchen auf, es ist, als hätte ich Sehnsucht danach. Ich komme frühmorgens oder abends, um alleine zu sein, setze mich auf irgendeine Bank und starre vor mich hin. Warum ich das mache, weiß ich nicht. Ich höre bloß zu, wie das Gebäude knirscht, oder wie in meinem Rücken Schritte hallen. Ich bete nicht. Ich bin bloß knapp davor, merke, wie meine Lippen Sätze bilden wollen, von denen ich nicht weiß, wie sie sich anhören würden. Ich stehe immer zu früh auf und gehe wieder, an den Kreuzen, den Kerzen, den Opferstöcken und den letzten Christen vorbei auf die Straße hinaus in mein gottloses Leben."

Geht’s Ihnen auch manchmal so?

Ihr
Karl Neumann

karlneumann@glaubensinformation.de