Meine Begegnungen - 9. Brief, Februar 2006 als PDF-Datei (118 kB)
In Japan ist alles anders Meine Begegnung mit Japan Allein in einem fremden Land Ich war noch nie mit einem Flugzeug geflogen, als ich nach Japan reiste. Und das war gleich ein Flug um den halben Erdball. Doch es ging besser als gedacht. Die Japanerin, die neben mir saß, wurde kreidebleich, als wir zum Landungsflug auf Osaka ansetzten. Ich dagegen fühlte mich wohl und betrachtete mit Interesse die Riesenstadt unter mir.
Doch dann kam der erste Schrecken. Niemand war da, um mich abzuholen. Da stand ich nun allein in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht verstand, ja dessen Straßenschilder ich nicht einmal lesen konnte. Schließlich schaffte ich es, Geld zu wechseln und zu telefonieren. Mein deutscher Bekannter in Nagoya war am Apparat. "R. ist weggefahren, um dich abzuholen", sagte er. "Warte noch eine Stunde. Wenn er dann immer noch nicht da ist, musst du eben allein nach Nagoya fahren". Eine Stunde verging, und R. war immer noch nicht da. Da bestieg ich den Bus zum Hauptbahnhof und fuhr von dort mit dem Shinkansen, dem Hochgeschwindigkeitszug, nach Nagoya, meinem Reiseziel. Trotz der Panne mit dem Abholen verlief meine erste Begegnung mit Japan überwältigend positiv. Bereits im Zug nach Nagoya machte ich meine erste Bekanntschaft. Ein junger Mann sah, wie ich mich mit meinem Gepäck abschleppte und fragte auf englisch: "Kann ich Ihnen helfen?" Er half mir mit dem Gepäck, suchte einen bequemen Platz aus, und wir plauderten auf Englisch, bis der Zug in Nagoya einlief. Er gab mir seine Visitenkarte und sagte: "Sie müssen mich unbedingt in Tokio besuchen!". Am Bahnhof fand ich ein Taxi, dessen Fahrer kein Englisch sprach. Unterwegs bot er mir eine Zigarette an. Als er, weil ich mich nicht erklären konnte, das Ziel nicht gleich fand, hielt er sofort den Taximeter an. Das war also mein erster Eindruck von den Japanern: eine Höflichkeit und Freundlichkeit, die überwältigt. Ein Alphabet mit dreitausend Buchstaben Ich war nach Japan gekommen, um an der Nanzan-Universität der Steyler Missionare die Studenten in das Christentum einzuführen, auf Japanisch natürlich. Doch dazu musste ich die Sprach gut beherrschen. So war meine erste Aufgabe, die Sprache zu lernen. Ich war damals bereits 39 Jahre alt und man hatte mich gewarnt: "In diesem Alter lernst du nie mehr Japanisch!"
Am Anfang schien es auch so. Die anderen fuhren nach Kyoto, um die alte Kaiserstadt zu besichtigen. "Du, Karl, bleibst am besten zu Haus. Du solltest noch etwas für dein Japanisch tun!" bekam ich zu hören. Doch dann ging es besser, und nach einigen Monaten brauchte ich den Vergleich mit den anderen, Jüngeren, durchaus nicht zu scheuen. Wir lernten auch die komplizierte japanische Schrift mit ihren etwa 3000 Zeichen. Und die japanische Kultur: japanische Geschichte, Literatur, Kunst, Religion. An einem Wochenende nahmen wir am Leben und der Meditation der Mönche in einem berühmten Zen-Kloster teil, was mich tief beeindruckte. Eine Deutsche aus einer evangelikalen Gruppe war in meiner Klasse. Sie hatte gelernt, dass alle "heidnischen Religionen" Teufelswerk seien. Dass wir diese an unserer christlichen Universität mit Wohlwollen studierten und z. B. manches von der Zen-Praxis übernahmen, war für sie am Anfang schockierend, dann aber wie eine Befreiung. Eine Taufe mit Hindernissen Ergreifend war die erste Taufe, die ich mit erlebte. Es war an Weihnachten, da wurden vier Studentinnen und ein Student unserer Universität getauft. Eine Studentin weinte, als das Taufwasser über ihre Schläfen floss. Wie tief musste diese Wende in ihrer Lebensgeschichte sie ergriffen haben. Bald danach konnte ich selbst meine erste Erwachsenentaufe spenden.
In der Uni-Bibliothek traf ich Michiko, eine Studentin. Sie hatte ein Problem. "Wieso sagt ihr Christen eigentlich, dass Jesus der einzige Sohn Gottes sei? Warum sollen wir Japaner den Buddha nicht auch als Sohn Gottes verehren?" Wir kamen darüber in eine gute Unterhaltung, die bald darauf hinauslief, dass ich ihr Glaubensunterricht gab. In englischer Sprache, denn ich war ja noch im Sprachstudium. Michiko brachte nach einiger Zeit eine zweite Studentin mit. Ein halbes Jahr war vergangen, da kam Michiko etwas verlegen zu mir: "Father, ich weiß ja, ich bin es nicht wert, und ich bin ja noch so unwissend, aber dürfte ich Sie trotzdem fragen, ob ich die Taufe empfangen darf?" Das war japanische Höflichkeit. Gern stimmte ich zu, und wir legten die Taufe für die Osternacht fest. Doch Michikos Eltern waren strikt dagegen, dass ihre Tochter sich taufen ließ, vor allem der Vater. Sie war einzige Tochter, so hatte sie, wenn ihre Eltern gestorben waren, den buddhistischen Ahnenaltar in der Zimmerecke zu übernehmen und für ihre Eltern und Vorfahren zu beten. Wie sollte sie das tun, wenn sie Christin wurde? Doch Michiko blieb fest. Sie sei volljährig und könne ihre Religion selbst bestimmen, sagte sie. Die Osternacht kam, ich taufte Michiko in unserer Kapelle. Sie war überglücklich, nur ein kleiner Wermutstropfen trübte den schönen Tag: ihr Vater kam nicht mit zur Taufe, während die Mutter ihr ihren Segen gab. Heute ist der Friede mit dem Vater längst wieder hergestellt. Diese Geschichte beleuchtet die Situation des Christentums in Japan. Das Christentum hat viele Sympathien, besonders wegen seiner Kultur, seiner guten Schulen und Krankenhäuser. Aber wenn dann im Ernst jemand Christ werden will, ist das so etwa, wie wenn hierzulande jemand in eine Sekte eintreten wollte. Zahlenmäßig ist das Christentum in Japan auch nicht viel mehr als eine Sekte. Nur etwa 1 % der Japaner sind christlich getauft, katholisch sind nicht einmal ein halbes Prozent. Oft geht der Riss, wie bei Michiko, quer durch die Familien. Die Katzenmesse Die Sprachschule war nach zwei Jahren für mich zu Ende. Ich kam nun für ein Jahr in eine Pfarrei der Steyler in Tokio. Als ich an einem Sonntag dabei war, mich für die Messe vorzubereiten, kam eine Frau in die Sakristei. Sie trug etwas, das mit einem Tuch verhüllt war. Sie schlug das Tuch zurück: es war eine tote Katze. "Mein Lieblingskätzchen ist gestorben", sagte sie. "Können Sie bitte für sie eine Totenmesse halten?" "Tut mir leid, gnädige Frau, in der katholischen Kirche werden für Katzen keine Totenmessen gehalten". Als ich ihr Unverständnis und ihre Enttäuschung sah, kam mir ein Einfall. "Nehmen Sie doch einfach Ihre Katze mit in die Messe und beten Sie kräftig für sie. Sie wird dann schon ihre Ruhe finden". Das war buddhistisches Denken. Menschen und Tiere, ja alle Lebewesen bilden eine große Familie. Ein Mensch kann ja als Tier wiedergeboren werden und ein Tier als Mensch. So gibt es im Buddhismus Totengottesdienste für Tiere und schön geschmückte Tierfriedhöfe. Auf die persönliche Beziehung kommt es an
Nach diesen drei Jahren Vorbereitungszeit begann meine eigentliche Arbeit: an der Nanzan-Universität der Steyler die Studenten in das Christentum einzuführen. Ich kehrte also jetzt als Lehrender an die Universität zurück, an der ich vorher Student gewesen war, und lehrte zwei Fächer, die man beide ungefähr mit "Einführung in das Christentum" übersetzen kann. Die Universität war zwar eine katholische Universität, aber die Studenten waren fast alle Nichtchristen. Ihnen das Christentum verständlich und anziehend zu machen, war eine Aufgabe, die mich herausforderte und die mir aller Mühe wert schien. Und es war so: Die Studenten, die noch kaum etwas vom Christentum gehört hatten, waren interessierter als unsere deutschen Studenten, die das alles bereits zu kennen glauben. Wie Paulus, der Missionar, sagt: "Sehen werden die, denen nichts über ihn verkündet wurde, und die werden verstehen, die nichts gehört haben" (Römerbrief 15,21). Die Studenten waren interessiert und machten auch gute Examina, doch dass sich durch dieses Fach jemand zum Christentum bekehrt hätte, war selten. Für die Studenten war diese Einführung halt immer noch ein "Schulfach", und sie trennten säuberlich Theorie und Praxis, Schule und Leben. Die Studenten, die ich (ein Jahr lang) im Glauben unterrichtete und dann taufte, hatte ich fast immer durch persönlichen Kontakt kennen gelernt. Manche studierten in der Deutschen Abteilung und hatten mit mir als Deutschen Kontakt gesucht. Die meisten kamen aus dem Glaubenskurs, den ich im christlichen Zentrum der Universität hielt. Wer sich für diesen "außerschulischen" Kurs freiwillig meldete, hatte meist auch ein existentielles Interesse am christlichen Glauben. In Japan entsteht zwischen dem Täufling und dem, der ihn gelehrt und getauft hat, oft eine lebenslange gute Beziehung. Das belohnt für manche Mühe und manchen Frust, wenn man in Japan nicht, wie Jesus sagte, die Netze auswerfen kann, sondern mit der Angel lange und lange am Ufer steht, ehe vielleicht ein Fisch "anbeißt". Nur nicht aus der Haut fahren! Zwei Dinge möchte ich zum Schluss noch erwähnen, die ich in Japan lernen musste. Einmal die Art, wie man das Christentum zu präsentieren hat. Als guter Deutscher oder Europäer legte ich Wert auf stichhaltige Argumente. Bis ich merkte, dass die Japaner weniger nach der Wahrheit fragen, sondern nach der Schönheit oder Nützlichkeit. Das bewegt sie, einer Sache (z. B. dem Christentum) zuzustimmen, nicht die nackte Wahrheit. Ferner musste ich lernen, was den Japanern z. B. in der Vorlesung wichtig ist. Vor allem darf man nie aus der Haut fahren. Wer glaubt, es beeindrucke, wenn er zu schimpfen und zu poltern beginnt, der hat schon verloren. Eine eiserne Selbstbeherrschung, ein lächelndes Gesicht, ein humorvolles Reagieren, das ist es, was Japaner schätzen - und nicht nur sie. Als ich aus Japan zurückkehrte, habe ich meine Erfahrungen und Begegnungen in einem Buch aufgezeichnet, das als Herder-Taschenbuch erschienen ist. Ich nannte es "In Japan ist alles anders". Leider ist es nicht mehr erhältlich, aber wenn Ihr bei Google den genannten Titel und dazu meinen Namen als Suchbegriff eingebt, findet Ihr einiges darüber. Euch eine fröhliche Karnevals-/ Fastnachts-/ Fasnet-/ oder Faschingszeit, wo immer Ihr wohnt
Euer
Karl Neumann |