Meine Begegnungen - 8. Brief, Januar 2006 als PDF-Datei (101 kB)
Genius in Filzpantoffeln
Meine Begegnung mit Karl Rahner
Es war ein heißer Sommertag des Jahres 1961. Wir hatten Ferien. Ich lag schwitzend und müde in einem der kleinen Dachzimmerchen, deren kleine Fensterluken schräg nach oben geöffnet waren und die wir daher "die Flugkabinen" nannten. Sie erinnerten uns an das enge Cockpit eines Flugzeuges. Jene "Flugkabine" gehörte einem Kollegen, der zur Zeit auf Urlaub war. Im Regal fand ich ein Buch, das ich nie vorher gesehen hatte. Es waren Aufsätze von Karl Rahner. Gleich der erste faszinierte mich. "Zur gegenwärtigen Situation des Christen" hieß der Titel. Für ein Christentum der freien Entscheidung
Hier sah ich endlich ausgesprochen, was ich schon lange undeutlich
gespürt hatte. Doch die Diaspora ist die gottgegebene Situation des Christentums heute, wie sie es in den ersten Jahrhunderten war. Wir müssen sie akzeptieren. Das Christentum kann sich immer weniger auf Sitte, Brauch, bürgerliches Gesetz, Tradition oder Nachahmungstrieb stützen. Es wird aus einem Nachwuchschristentum ein Wahlchristentum, ein Christentum der freien Entscheidung. Der Klerus wird nicht einfach mehr zu den höheren, privilegierten Ständen gehören. Und das ist gut so. Zitat Rahner: "Wenn wir sagen, dass wir das Recht haben, kaltblütig mit der Diasporasituation der Kirche unter uns zu rechnen, dann heißt das, richtig verstanden, das Gegenteil von Resignation und Defätismus. Denn gerade, wenn wir einmal mutig es aufgeben, die alten Fassaden zu verteidigen, hinter denen nichts oder nicht viel ist.., wenn wir durch dieses Aufgeben das Christentum spürbar entlasten von dem Eindruck, es zeichne im Grunde verantwortlich für all das, was hinter diesen christlichen Attrappen geschieht, es entlasten von dem Eindruck, das Christentum sei seiner Natur nach der religiöse Firnis von jedermann und die Volksreligion (so wie es Volkstrachten gibt), dann gerade können wir frei werden für einen echten missionarischen Mut und apostolisches Selbstvertrauen." Hier fand ich ein neues Denken. Davon müsste die Kirche lernen, dachte ich. Und immer, wenn ich in der kommenden Zeit Rahners Schriften las, merkte ich: hier hat einer eine neue Lösung gefunden, die bahnbrechend ist. Inzwischen war Karl Rahner weltberühmt geworden. Er galt (und gilt) als der bedeutendste katholische Theologe des 20. Jahrhunderts. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom spielte er eine wichtige Rolle, ebenso bei der deutschen Synode in Würzburg. Meine erste Begegnung mit Karl Rahner
Als ich dann nach München umzog, bat ich Karl Rahner um ein Gespräch. Es war nicht schwer zu erhalten. Da stand ich nun diesem weltberühmten Mann gegenüber, und er führte mich in sein Zimmer. Auf seinem Lehnstuhl saß er mir gegenüber, mit bequemen Pantoffeln an den Füßen, gemütlich eine Zigarette rauchend. "Mein Gott", dachte ich, "so habe ich mir diesen berühmten Theologen aber nicht vorgestellt! Der könnte ja mein Großvater sein!". Vor einer solchen Menschlichkeit wich jedes Lampenfieber, und wir sprachen sehr entspannt. Ich fragte ihn nach einem Doktorvater, und er riet mir Prof. Heinrich Fries. Ihn nahm ich auch, und habe es nicht bereut. Und als es daran ging, ein Thema für meine Dissertation zu wählen, fiel mir wieder Karl Rahner ein. Seine Theologie galt als hochtheoretisch und hochkompliziert. Doch ich hatte den Eindruck, dass seine Theologie viel praktischer sei als man gemeinhin glaube, dass sie ihre Wurzel in der Praxis habe und auch dorthin ziele, und so wählte ich denn als Thema "Der Praxisbezug der Theologie bei Karl Rahner". Ich fragte ihn, ob das ein Thema sei, das einen bisher zu wenig beachteten Aspekt seiner Theologie ins Licht stelle, und er bestätigte es. Von nun an fragte ich bei Rahner häufiger um ein Gespräch über meine Arbeit an, und er gewährte es jedes Mal freundlich und großzügig. Nur einmal bekam ich sein Donnerwetter zu spüren. Ich rief am Vormittag an und bat telefonisch um die Klärung einer Sachfrage. Ich merkte bald, dass ich diesmal zu einem ungünstigen Zeitpunkt angerufen hatte und sagte: "Pater Rahner, wenn ich jetzt störe, sagen Sie mir bitte eine Zeit, wann ich wieder anrufen kann". Da fauchte er mich an: "Reden Sie nicht so lange herum! In dieser Zeit könnten wir schon fertig sein!" Aber dann hörte er sich doch meine Frage an und hatte sie rasch beantwortet. Seit der Zeit rief ich ihn niemals am Vormittag an, zumal ich dann gelesen hatte, Rahner könne sehr ungemütlich werden, wenn er am Vormittag in seiner besten Arbeitszeit gestört werde. "Dieser Opa kann ja gar nichts!" Karl Rahner war inzwischen umgezogen in die Hochschule für Philosophie, und das war nur einige Minuten Fußweg von unserer Wohnung. Ich traf ihn bisweilen auf der Straße. Einmal stand er vor der Auslage eines Fotostudios, in der lauter großformatige Kinderfotos zu sehen waren. Rahner war ganz versunken in den Anblick dieser Kinderbilder und konnte sich gar nicht davon trennen. Ich glaube, dass dieser Theologe, der so komplizierte Bücher schrieb, in manchem sehr einfach, ja man könnte sagen kindlich war. Der Anblick eines Kindergesichtes, das nichts verbarg, in dem man bis in die Seele schauen konnte, muss ihn tief ergriffen haben. In praktischen Dingen war Karl Rahner recht unbeholfen. Er wollte mir den neuesten Band seiner "Schriften zur Theologie" schenken und ging zu diesem Zweck mit mir in das Untergeschoss, wo die Bände lagen. Wir standen vor der Tür zum Magazin. Rahner wollte Licht machen, doch er konnte den Lichtschalter nicht finden, obwohl er direkt vor ihm lag. "Pater Rahner, schauen Sie, hier ist er", sagte ich höflich. In diesen Dingen war er eben ein echter Professor.
Schlimm war es, als er einmal bei einem Bekannten zu Gast war. Dieser war Assistent in Tübingen, und Rahner übernachtete dort. Der Bekannte musste sich für eine Zeit entfernen, seine Frau war auch gerade nicht da, und so war es an Rahner, die Kinder zu verwahren. Doch dafür hatte er offenbar wenig Geschick. Als die Eltern zurückkamen, sagte eines der Kinder: "Papa, was hast du uns da für einen Opa mitgebracht. Der ist ja richtig dumm. Wir wollten mit ihm Karten spielen, das kann er nicht. Mühle kann er auch nicht. Was kann dieser Opa überhaupt?" Für die Kinder war es klar: dieser "Opa" war dumm, obwohl er einer der intelligentesten Köpfe seiner Zeit war. Aber er wusste gerade das nicht, was die Kinder haben wollten. - Und nicht nur Kinder denken so. Viele Zeitgenossen lachen über den "zerstreuten Professor", den "unpraktischen Gelehrten", weil sie ihre kleinen und kleinlichen Maßstäbe an ihn anlegen. Karl Rahner wusste, dass seinen genialen Fähigkeiten auf manchen anderen Gebieten große Unfähigkeiten entsprachen, und das machte ihn bescheiden. Und diese Bescheidenheit wiederum machte ihn sympathisch. Als Mensch von heute Christ sein Über der Begegnung mit seiner Person darf aber die Begegnung mit seinem Werk nicht zu kurz kommen. Beides hat mich geprägt. Nur ist die Begegnung mit seinem Werk schwerer zu schildern, weil es so außerordentlich umfangreich und vielfältig ist. Und weil ich hier keine Fachtheologie treiben möchte. Doch einen Zug will ich erwähnen, der vielen seiner Schriften gemeinsam ist: Rahner möchte als Christ ein moderner Mensch sein und dennoch ein gläubiger Christ. Da ist z. B. das Problem der Evolution, auch der Herkunft des Menschen aus dem Tierreich. Da ist das Problem von scheinbaren Irrtümern und Widersprüchen in der Bibel, und die Frage, was dann noch Inspiration der Schrift heißt. Ferner: Jesus musste lernen, scheint manches nicht gewusst zu haben. Wie lässt sich das mit seiner Allwissenheit als Gottes Sohn vereinbaren? Noch vieles andere wäre zu nennen. In all diesen Dingen zeigt Rahner, dass man zugleich ein Mensch von heute und ein gläubiger Christ sein kann. Was unzähligen Christen in ihrem Glauben geholfen hat. Rahners letzte Vorlesung im März 1984, wenige Wochen vor seinem Tod, zeigt noch einmal die letzte Mitte seiner Theologie. "Die Unbegreiflichkeit Gottes", so nennt Rahner dort seine erste, grundlegende Erfahrung als Theologe. Gott als das unbegreifliche Geheimnis, über das kein Theologe so reden kann, als ob er es in die Tasche stecken könnte, das sich unserem Denken und Reden immer entzieht, das uns aber dennoch nahegekommen ist, weil es sich uns Menschen selbst mitgeteilt hat, das ist die Mitte von Karl Rahners Theologie. Euch wünsche ich die Nähe dieses "verborgenen Gottes" auch im Neuen Jahr
Euer
Karl Neumann |