Meine Begegnungen - 5. Brief, Oktober 2005 als PDF-Datei (145 kB)
Ein Mensch wie eine Quelle
Meine Begegnung mit Frère Roger von Taizé "Man kommt nach Taizé wie an den Rand einer Quelle". Das sagte der Papst (Johannes Paul II.), als er Taizé besuchte. Scheinbar nichts Besonderes, an den Rand einer Quelle zu kommen. Man setzt sich hin und trinkt, ruht ein wenig aus, und geht dann erfrischt und gestärkt weiter. Ich kann mir vorstellen, dass auch der Papst sich hier erfrischt hat, und dass er gestärkt nach Rom zurückkehrte, in seinen stressigen Alltag.
Der Mann, der diesen "Geist von Taizé" verkörperte wie kein Zweiter, war Frère Roger, der Gründer und Leiter (Prior) von Taizé. Er war ein Mensch wie eine Quelle: so schlicht, aber so voller Kreativität, voller Leben, das aus der Tiefe kommt. Bewusst schlicht Ja, er war schlicht, ganz bewusst einfach und schlicht. Ich hörte ihn in Tübingen. Nachdem er einige Zeit geredet hatte, machte mein Freund Anstalten, hinauszugehen. "Das ist ja nicht zum Aushalten", flüsterte er mir zu, "was der Mann da für Kindereien erzählt!". Ich empfand es allerdings völlig anders. Für einen Studenten, der an das Niveau theologischer Oberseminare gewohnt ist (das war mein Freund) mochte es primitiv erscheinen, was Frère Roger da erzählte - aber hatte Jesus von Nazaret nicht ebenso schlicht (und tief) geredet? Frère Roger umgab sich beim Gottesdienst stets mit Kindern. Ja, es war so: wer kleinere Kinder dabei hatte, konnte sie vor dem Gottesdienst bei Frère Roger "abliefern". In seiner Nähe waren die Kleinen bald mucksmäuschenstill. Nicht, dass er sich viel um die Kinder gekümmert hätte. Doch wenn sie ihn so intensiv beten sahen, steckte das an. Dieser Gestus des Priors von Taizé wurde oft missverstanden. "Der zieht mit den Kindern eine Show ab!", sagte man. Aber so gut kannte ich Frère Roger nun wirklich, dass ich wusste: der zieht keine Show ab. Ich glaube, es hat mit der Quelle zu tun, von der ich anfangs sprach. In Kindern begegnen wir der Quelle des Lebens. Von ihrer Lebendigkeit, ihrer Kreativität können wir lernen. Und es hat mit ihrer Kleinheit zu tun. Der Gründer und Leiter von Taizé, der "Erste" (Prior), will sich durch die Kinder stets an das Wort Jesu erinnern lassen: "Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte" (Matthäus 18,4). Arm sein, arm sein, immer mehr arm sein Zuerst hatte ich Frère Roger nur auf diese Weise im Gottesdienst erlebt. Es dauerte lange, bis ich mir den Mut fasste, ihn um ein persönliches Gespräch zu bitten. In Taizé ist es üblich, dass nach den Gottesdiensten einige Brüder in der Kirche zurückbleiben und für ein persönliches Gespräch zur Verfügung stehen. Unter ihnen auch Frère Roger. Verständlich, dass sich vor ihm stets eine lange Schlange von Wartenden bildete. Ich sah ihn einmal, wie er fast verzweifelt ausrief: "Geht doch bitte auch zu den anderen Brüdern, die hier stehen. Ich bin Protestant, bin kein katholischer Priester, bei mir könnt ihr nicht beichten". Doch bevor ich in die Mission nach Japan ging, wollte ich doch unbedingt einmal mit Frère Roger selbst sprechen. Ich ließ mich also nicht abdrängen und kämpfte mich schließlich bis zu ihm durch. "Frère Roger", sagte ich, "bei mir beginnt ein ganz neuer Abschnitt meines Lebens. Ich gehe als Missionar nach Japan. Bitte geben Sie mir ein gutes Wort mit auf den Weg." Er bedachte sich einen Augenblick, dann sagte er: "Einige von uns Taizé-Brüdern leben in Japan. Sie erzählten mir mit Staunen, was für ein reiches Land Japan ist. Ich will Ihnen daher das Wort mitgeben: Pauvre, pauvre, toujours plus pauvre! (arm sein, arm sein, immer mehr arm sein)." Ich habe mich oft an jenes Wort erinnert - nicht nur in Japan, und beginne es immer tiefer zu verstehen. Und zwar so: Es kommt für den Menschen darauf an, immer mehr arm zu werden. Wenn man älter wird (und vielleicht schon vorher), nimmt das Leben einem immer mehr aus der Hand. Die Arbeit, die man gern gemacht hat, kann man nicht mehr tun. Der liebste Mensch wird einem genommen. Die Augen werden so schlecht, dass man nicht mehr lesen kann. Und manches mehr, bei dem einen dies, bei dem anderen jenes. Das alles wird mir aus der Hand genommen. Ich kann nun die Hand krampfhaft zusammenballen und mich wehren. Oder ich kann die Hand öffnen und sagen: Arm sein, arm sein, immer mehr arm sein. Ich nehme meine wachsende Armut an und glaube Jesus, der gerade die Armen selig gepriesen hat. Die letzte Zuspitzung dieser Armut ist der Tod. Da wird einem alles aus der Hand genommen. Aber es gibt Leute, die auch da noch mit letzter Kraft die Hand zusammenballen und nichts hergeben wollen. Und es gibt Menschen, die den Tod nicht als Katastrophe empfinden, sondern als höchste Konsequenz ihres Lebensideals: arm sein, arm sein, immer mehr arm sein. Mahlzeit mit den Brüdern Doch ich habe noch nicht alles erzählt von jener Begegnung mit Frère Roger. Er lud mich ein, mit den Brüdern Mittag zu essen. Ich wurde auf eine Wiese geführt, mit einer prächtigen Aussicht über das Hügelland um Taizé. Einfache Holztische und Bänke standen im Kreis unter einem Baum. In der Mitte kniete Frère Roger im Gras und schöpfte die Speisen, die dann ausgeteilt wurden. "Ich bin in eurer Mitte wie einer, der bedient", hat Jesus einmal gesagt (Lukas 22,27). Ja, ich denke, dass Jesus und seine Jünger oft im Freien unter einem schattigen Baum ihre Mahlzeiten eingenommen haben. An jene schöne Urzeit des Christentums hat mich die Mahlzeit der Brüder erinnert. Frère Roger lud mich bei dieser Gelegenheit ein, auch die kleine Taizé-Gemeinschaft in Japan zu besuchen und Grüße zu überbringen. Ich tat das sobald wie möglich. Es waren drei Taizé-Brüder, die in der Nähe von Tokyo wohnten: ein Franzose, ein Schweizer und ein Holländer. Sie gehörten zu den "ausgesandten Brüdern", die in kleinen Gruppen über die Welt zerstreut unter den Armen leben. Die drei lebten unter den Burakumin. Die Burakumin, auch Eta genannt, sind Leute, die sich mit Ledergerben beschäftigten. Sie bildeten mit der Zeit eine eigene Kaste, die man mit den Parias in Indien vergleichen kann. Denn der Umgang mit Tierhäuten ist für die Japaner ein unreines Gewerbe, und die Burakumin wurden von der Gesellschaft gemieden und verachtet. In einer solchen Siedlung lebten die drei Taizé-Brüder und hatten bald das Vertrauen der Leute gewonnen. Ich besuchte sie oft, auch sie besuchten mich, und es entstand bald eine Art Freundschaft. Was wird aus Taizé?
Nun ist Frère Roger tot, erstochen von einer offenbar Geistesgestörten. Ein tragischer Tod? Ich hoffe, Ihr versteht mich, wenn ich sage: Ich finde, dieser Tod passt zu seinem Leben. Kardinal Lehmann hat es ausgesprochen. Der Taizé-Gründer, sagte er, habe ein Schicksal erlitten, das "an das gewaltsame Geschick Jesu und anderer Zeugen für ein gewaltfreies Leben der Menschen erinnert". Wenn man es so sieht, verliert dieser Tod viel von seiner Tragik. Wie wird es in Taizé weitergehen ohne Frère Roger? Schon lange vor seinem Tod hörte ich die Unkenrufe: Pass mal auf, wenn Roger Schutz einmal tot ist, wird Taizé auch nicht mehr bleiben, was es ist. Doch ich muss sagen: Ich habe da keine Sorge. Taizé ist eine Gemeinschaft und nicht eine Person. In Taizé gibt es keine Stars, da wurde und wird kein Personenkult getrieben. Wenn es so etwas gab, dann waren es Außenstehende, die das besorgten.
Frère Roger hat sein Werk auf feste Füße gestellt. Er hat eine Regel geschaffen, in der sein Geist lebendig ist, und darin lebt er weiter. Schon lange vor seinem Tod hat er seine Nachfolge geregelt: Bruder Alois aus Stuttgart leitet nun die Gemeinschaft. Vielleicht wird er nicht mehr solche Massen anziehen wie Frère Roger. Aber das ist gar nicht so wichtig. Die Hauptsache: die Gemeinschaft selbst ist gesund, weil in ihr das Wasser weiterfließt, dessen Quelle Frère Roger ist. Euch eine gute Zeit. Wenn Ihr kürzlich in Taizé wart, schreibt mir doch mal Eure Eindrücke. Bis dann |