Meine Begegnungen - 4. Brief, September 2005 als PDF-Datei (237 kB)
Gott ist hier Meine Begegnung mit Taizé
Frère Roger ermordet Eine der umwerfendsten Begegnungen in meinem Leben ist die mit Taizé. Darum habe ich sie als die nächste Begegnung in meiner Reihe ausgewählt. Der Text war fertig, mein Urlaub begann. Da platzte am Abend vor meiner Abreise wie eine Bombe die Nachricht: Frère Roger, der Gründer von Taizé, ist ermordet worden. Er, der nie einem Menschen Gewalt angetan, der nie Hass gepredigt hat, sondern Liebe und Versöhnung - er erstochen? Unglaublich. Trotzdem möchte ich Euch den Text so bringen, wie ich ihn vor dieser Nachricht geschrieben habe, und im nächsten Brief etwas über meine Begegnung mit Frère Roger sagen. Die Kirche Es war ein dunkler Nachmittag im November, als ich zum ersten Mal durch das kleine Dörfchen den Hügel von Taizé hinanstieg. Mit 14 Novizen war ich im Zug durch halb Frankreich gefahren. In Macon hatten wir den Zug verlassen und waren mit einem Linienbus nach Taizé gekommen. Was mir an diesem ersten Nachmittag den stärksten Eindruck machte, war die Kirche. So hatte ich noch nie eine Kirche gesehen. Man ging hinein - und musste erst einmal stehen bleiben, es war fast dunkel, nur die Kerzen vor den Ikonen gaben ein schwaches Licht. Der riesige Raum schien leer zu sein. Doch da schien neben mir eine Gestalt zu kauern, im Gebet versunken, und als die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich noch mehr. Es waren Jugendliche, die auf dem Teppichboden hockten oder knieten, einige mit dem Gesicht auf dem Boden. "Mein Gott, was ist denn das?", dachte ich, "haben die gerade eine Erscheinung?" Aber sie sahen nicht wie überspannte Frömmler aus. Es waren ganz normale Jugendliche in Jeans und mit langen Haaren (wir schrieben das Jahr 1970!). Meine Schritte waren auf dem Teppichboden unhörbar, es herrschte absolute Stille. Ich weiß nicht, wie es kam, aber die Gegenwart Gottes war hier mit Händen zu greifen. Die Jugendlichen, die sich mit dem Gesicht zu Boden warfen, trugen zu einer Atmosphäre der Anbetung bei, wie Moses vor dem brennenden Dornbusch. Dabei war es (noch einmal gesagt) keine überhitzte Atmosphäre, kein kollektives Abheben. Im Gegenteil, es herrschte völlige Freiheit. Der große Raum war ohne Bänke und Stühle. Jeder konnte auf dem Teppichboden liegen, sitzen, knien oder stehen, wie es ihm gerade passend schien. Der Gottesdienst
Dann kam das Abendlob. Schon einige Zeit vorher hatte sich die große Kirche mit Menschen gefüllt. Die Brüder von Taizé hatten ihre Plätze nicht vorne im Chor, wie das sonst wohl üblich ist. Sie saßen inmitten des "Volkes Gottes", nicht an seiner Spitze. In zwei langen Reihen in der Mitte sitzend, bildeten sie die Mitte der Versammlung. Und was mir noch gefiel: Da gab es keine Schranke und kein Gitter, um die Sitze der Brüder von denen der anderen zu trennen. Grüne Buchsbaumzweige waren so auf den Filzboden gelegt, dass sie eine diskrete Linie bildeten, die den Bezirk der Brüder kenntlich machte und reservierte. Hier marschierte kein Priester mit den Messdienern ein. Ja, es gab keine Uhr, die mit ihrem Stundenschlag die Zeit zum Beginn des Gottesdienstes anzeigte - wie oft bei den pünktlichen Deutschen. Alle waren versammelt, Ruhe war eingekehrt, da leuchteten die Lichter auf und mit einem strahlenden "Halleluja" begann das Abendlob. Die weißen Gewänder der Brüder leuchteten in diesem Licht und halfen mit, das Lob festlich zu gestalten. Wer Taizé kennt, wird sich wundern, aber das, was heute zum "Markenzeichen" von Taizé geworden ist: die ständig wiederholten kanonartigen Taizé-Gesänge, gab es damals noch nicht. Doch das machte nichts. Mindestens genauso wie heute war jene intensive Gegenwart Gottes zu spüren, die das Gebet erst zum Gebet macht. Die Retraite Taizé besucht man nicht als Tourist. Man bleibt eine Woche, um eine Retraite (Einkehrtage, Besinnungswoche) mitzumachen. Die 14 Novizen und ich waren angemeldet, Frère Jaques war unser Begleiter in diesen Tagen. Pfeiferauchend saß er in unserer Runde, hörte aufmerksam zu, erschloss uns die Bibel, schickte uns in die Einsamkeit, um uns mit Gott und unserem Lebensweg zu konfrontieren. Die Novizen waren begeistert. "So etwas müssen wir daheim auch machen!", sagten sie, als die Tage zu Ende waren. Und wirklich: wir waren kaum daheim, da räumten die einen einen Saal aus, der als Abstellraum benutzt wurde, andere strichen ihn, hängten das Taizékreuz auf, legten Teppiche zu einem Halbrund und stellten darauf kleine Hocker, wie sie es in Taizé gesehen hatten. Ein anderer übersetzte die Texte der Taizé-Gebete ins Deutsche, adaptierte die Melodien dazu, kopierte das Ganze - und nach drei Tagen begann unser Taizé-Gebet, morgens, mittags und abends, ohne Ausnahme jeden Tag, solange das Noviziat dauerte. Die Menschen
Doch zurück zu Taizé. Was uns an Taizé faszinierte, und was auch heute viele fasziniert, sind nicht nur die Gebete. Man trifft ganz einfach prächtige Leute in Taizé. Damals im November 1970 waren es keine Massen, und das war gut so. Aber es war z. B. das interkontinentale Team, welches das "Konzil der Jugend" vorbereitete. Es war etwa ein halbes Dutzend junge Leute aus allen Kontinenten, alle auf einer Abenteuerreise für das Evangelium. Das waren Gespräche! Das war Einfachheit, als alle auf den Steintreppen und dem bloßen Fußboden saßen, unser mexikanischer Novize die Gitarre nahm, und bald alle den heißen Rhythmus mexikanischer Lieder im Blut hatten. Ich bin später noch oft und oft in Taizé gewesen, aber jene erste Begegnung war auch zugleich die eindrucksvollste. Die Regel Natürlich war es nicht von ungefähr, dass ich den Novizen vorschlug, nach Taizé zu fahren. Schon seit den fünfziger Jahren hatte man von Taizé gehört. Es war bekannt als die erste protestantische Gemeinschaft von Brüdern, die das Mönchsideal für sich entdeckt hatte. Protestanten, die wie katholische Mönche in lebenslangem Zölibat, Armut und Gehorsam lebten. Die Regel von Taizé, nach der sie lebten, kannte ich und schätzte sie mehr als die katholischen Ordensregeln, die ich kannte. Weil die helle Freude des Evangeliums aus ihr spricht, und kein düsterer Aszetismus. Weil sie kaum juristische Vorschriften enthält. Weil sie nicht nur eine Regel ist, sondern ein spiritueller Führer. Beispiele dafür sind die zentralen Kapitel: "Lass in deinem Tag Arbeit und Ruhe von Gottes Wort ihr Leben empfangen"; "Wahre in allem die innere Stille, um in Christus zu bleiben"; "Freude", "Einfachheit", "Barmherzigkeit".
Damals war die Zeit, wo unsere Ordensjugend den traditionellen Sinn der drei Ordensgelübde radikal in Frage stellte. Die Regel der (damals noch nicht ökumenischen, sondern) protestantischen Bruderschaft von Taizé half uns paradoxerweise, den Sinn und die Bedeutung der katholischen Ordensgelübde neu zu entdecken. Da war nicht mehr von "Gelübden" oder "Profess" die Rede, sondern von "Engagements". Und die drei "Engagements" hießen nach der Regel von Taizé "Zölibat", "Gütergemeinschaft" und "Anerkennung einer Autorität". Das war für uns damals eine neue und befreiende Interpretation. Die Brüder von Taizé haben ihre Regel später neu gestaltet. Sie heißt jetzt: "Die Quellen von Taizé". Doch was nützt die beste Regel, wenn sie nicht gelebt wird? Als ich zum ersten Mal nach Taizé kam, war das der stärkste Eindruck: hier wird die Regel, hier wird das Evangelium wirklich gelebt. In der neuen Regel steht: "Finden die, die wir Tag für Tag empfangen, in uns Menschen, die Christus ausstrahlen?" Bei allem Rummel, der heute durch die große Zahl der Besucher in Taizé entstanden ist: ja, hier findet man Menschen, die Christus ausstrahlen. Gott sei Dank. Vielleicht habt Ihr Frère Roger in diesem Brief vermisst. Im nächsten Brief werde ich dann berichten, wie ich ihm begegnet bin. Bis dahin eine gute Zeit Euer
Karl Neumann |