Meine Begegnungen - 3. Brief, August 2005   PDF-Zeichen als PDF-Datei (136 kB)

Ein Buch, das man essen kann

Meine Begegnung mit der Bibel

Ein Bild aus meiner Schulbibel sehe ich heute noch vor mir: Da hing der junge Absalom mit seinen langen Haaren in den Ästen einer Eiche fest. Sein Maultier war unter ihm weggerannt, und er baumelte hilflos in der Luft. Das bemerkte sein Feind Joab, der Feldherr Davids. Links im Bild sah man ihn, wie er von hinten seinen Speer in den hilflos baumelnden Absalom bohrte.

Die Heilige Schrift

Solche Bilder und die Geschichten, die dazugehörten, das war es, was mir als Kind unter die Haut ging. Das Fach, in dem wir sie kennen lernten, hieß nicht zufällig "biblische Geschichte", und ich weiß gar nicht, ob außer Geschichten noch etwas anderes in der Schulbibel stand.

Außer der Schulbibel gab es bei uns daheim noch ein "Neues Testament", aber das war klein gedruckt, und es waren keine Bilder drin, also uninteressant.

Um 4.40 Uhr war Wecken

Dann kam das Noviziat. Bald nach dem Abitur begann es: eine intensive religiöse Schulung, eine Vorbereitung auf das Leben im Steyler Orden.
Vieles davon habe ich vergessen. Aber was ich für mein Leben mitgenommen habe, war die Begegnung mit der Bibel.

Ja, im Noviziat habe ich die Bibel kennen gelernt. Wir lasen sie auf Latein, lasen sie (das Neue Testament) im griechischen Urtext, und natürlich auf Deutsch. Ich habe damals begonnen, die ganze Bibel vom Anfang bis zum Ende zu lesen, von der Schöpfung bis zur Apokalypse, jeden Tag ein Kapitel. Es hat Jahre gedauert, dann war ich durch.

Der Tag begann damals um 4.40 Uhr (!!!) mit dem Wecken. Nach dem Morgengebet folgte die Betrachtung über eine Stelle der Bibel. Die musste am Abend vorher vorbereitet werden. Das heißt: die Bibelstelle wurde durchgelesen, möglichst auch im Urtext. Und sie wurde in Betrachtungspunkte aufgeteilt, die sie für das betrachtende Gebet am nächsten Morgen aufschlossen. Bisweilen hatten wir solches Nachdenken über eine Bibelstelle auch schriftlich zu machen und es dem Novizenmeister vorzulegen, der es dann mit einigen Anregungen zurückgab.

Er empfahl uns auch, uns einen Kommentar zur Bibel anzuschaffen. Ich tat es und erfuhr dabei Dinge über die Bibel, die ich nicht geahnt hatte. Dass der heilige Evangelist Matthäus, der einer der zwölf Apostel war, es nötig hatte, große Teile seines Evangeliums von einem anderen "abzuschreiben", dazu noch von Markus, der gar kein Apostel war, das war damals für mich eine harte Nuss. Auch dass die Kindheitsgeschichte Jesu bei Matthäus und die bei Lukas nur schwer zur Übereinstimmung zu bringen seien, auch das gab mir zu knacken. Doch ich konnte es bald in meinen Glauben integrieren. Und als später nach dem Konzil das große Erwachen aus der naiven Bibelgläubigkeit einsetzte, war ich sozusagen bereits geimpft und kam ohne größeren Schaden davon.

Die große Entdeckung: Paulus

Doch von der eigentlichen Entdeckung meines Noviziats muss ich noch erzählen. Es waren die Briefe des Apostels Paulus. Das war für mich wirkliches Neuland, und ich ging jeden Tag auf Entdeckungsreise.

Der Völkerapostel

Ich fand hier eine neue Dimension unseres Glaubens. Als Kind war der Glaube, war die Bibel, eine Reihe von Geschichten. Die waren es ja, die in unserer Schulbibel standen. Nun, da ich das Abitur hinter mir hatte, empfand ich diese Kindergeschichten als allzu simpel, allzu primitiv. In Paulus entdeckte ich nun eine denkerische Tiefe, die keinem der großen Denker nachstand. Viele scheuten vor den Paulusbriefen zurück, weil sie zu kompliziert seien. Aber gerade das Komplizierte reizte mich, forderte mich heraus, weil es in diesen schwer zugänglichen Gedankengebirgen so viel Neues zu entdecken gab.
Ich sah, dass Paulus für seinen Glauben gar nicht viel Einzelheiten aus dem Leben Jesu brauchte. Er lebte aus dem Tod und der Auferstehung Jesu, und aus seiner Wiederkunft. Das waren die Angelpunkte seines Glaubens, und es waren auch die meinen.

Da brauchte man keine Angst zu haben, ob wieder ein neuer Exeget dieses oder jenes Wort Jesu als sekundär erklären, dieses oder jenes Wunder "abschaffen" würde. Wer mit Paulus aus dem Kern des Glaubens in Tod und Auferstehung lebte, hatte einen sicheren Fels, auf dem er stehen konnte.

Paulus war ein Missionar. Bei ihm lernte ich, was missionarische Spiritualität ist. Den Juden ein Jude werden und den Griechen ein Grieche. Allen alles werden, um auf jede mögliche Weise wenigstens einige zu gewinnen (vgl. 1. Korintherbrief 9. Kapitel). Wie ein Brandstifter reiste er um die halbe Welt, entzündete überall kleine Flämmchen, die dann zu Christengemeinden heranwuchsen.

Bei all seinen Aktivitäten wurde er nie zum Aktivisten. Eine lebendige Verbundenheit mit Christus erfüllt ihn, macht ihn stark, treibt ihn an.

"Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat" (Galaterbrief 2, 19-20).

Die Kirche muss sich grundlegend reformieren

Unter den Novizen hatten wir eine kleine Gruppe, in der wir uns gegenseitig kurze Vorträge hielten, um uns für die spätere Predigt vorzubereiten. Ich sprach da zu den Kameraden über mein Steckenpferd: die Bibel. Ich sagte etwa folgendes:

Die Kirche muss sich grundlegend reformieren und sich wieder mehr auf den festen Grund der Bibel stellen. Die Bibel ist das Wort Gottes, von diesem Fundament darf die Kirche nie abkommen. Die Glaubenslehre muss wieder eine biblische Theologie, die Moral eine biblische Moral werden. Wenn die katholische Kirche sich so erneuert, wird sie auch den Kirchen der Reformation näher kommen. Die Kirchen sind wie Flüsse, die aus einer einzigen Quelle hervorgegangen sind. Erst im Laufe der Geschichte haben sie sich verzweigt und gespalten. Der Weg zur Einheit heißt also: den Fluss hinaufgehen, bis wir zur Quelle kommen, die unser gemeinsamer Ursprung ist: zur Bibel.

Johannes wird aufgefordert, das dargereichte Buch zu essen.

Ich habe später nie mehr so viel Zeit gehabt, mich mit der Bibel zu beschäftigen wie im Noviziat. Damals war ich noch jung und wie ein Schwamm, der alles aufnahm und festhielt. Die Paulusbriefe hatte ich so in mich aufgenommen, dass meine Kameraden mich nach einer beliebigen Stelle fragen konnten - ich fand sie sogleich.

"Ein Buch, das man essen kann" habe ich diesen Bericht genannt. In der Bibel gibt es eine Szene, wo der Verfasser der "Offenbarung des Johannes" von einem Engel ein Buch erhält, das er essen soll und auch wirklich isst (Offb 10, 8-10; vgl. Ezechiel 3,1-3). Dieses Buch ist zwar nicht unsere Bibel, aber auch die Bibel ist "ein Buch, das man essen kann". Und mein Verhältnis zur Bibel kann ich nicht besser beschreiben als mit dem Wort: "Ich habe sie gegessen".

 
Frohe Grüße - und einen angenehmen Urlaub

Euer Karl Neumann