Meine Begegnungen - 2. Brief, Juli 2005 als PDF-Datei (82 kB)
Warum ein Priester Straßenkehrer wird Meine Begegnung mit den Arbeiterpriestern und den Kleinen Brüdern Jesu
Ich war etwa sechzehn Jahre alt, da begegnete ich Michel Quoist. Wer Michel Quoist ist? Ich wusste es am Anfang selber nicht, aber ich bekam ein Buch von ihm in die Hand, das habe ich heute noch. Es gibt außer der Bibel kein zweites Buch, das so mit mir durch mein ganzes Leben gegangen ist, seit ich es mit sechzehn Jahren kaufte. "Herr, da bin ich" hieß das Buch. Es waren lauter Gebete, aber was für Gebete! "Gebet vor einem Geldschein", "Die pornographische Zeitschrift", "Sie haben einen Nordafrikaner erschlagen" - und andere von diesem Kaliber. Beten - das hatte für mich geheißen: sich über den Alltag erheben, den Schmutz unter mir lassen, aber hier war das Gebet so bunt und schmutzig wie der Alltag selber. Ich lernte, den Alltag selbst zum Gebet zu machen. Es war der Alltag einer Großstadt. Michel Quoist, so hörte ich, sei Arbeiterpriester in der französischen Hafenstadt Le Havre. Und ich begann, mich für die Arbeiterpriester zu interessieren. Weg mit dem schwarzen Rock!
Den schwarzen Rock und römischen Kragen ausziehen, den die Kirchenfernen als Barriere empfanden, mit den Händen arbeitend sein Brot verdienen, wie es schon Paulus getan hatte, brüderlich unter den Menschen leben, ohne Privilegien: damit könnte die Kirche das Vertrauen der Menschen wiedergewinnen. Davon war ich überzeugt. Ein Buch hatte ich, vom Leben eines Arbeiterpriesters in der Bannmeile von Paris. Das Buch war damals ein Bestseller: "Die Heiligen gehen in die Hölle", von Gilbert Cesbron. "Priester werden Arbeiter" sagte der Untertitel. Dieses Buch hat mich für die Arbeiterpriester begeistert. In der rußigen Luft der Bannmeile zu leben, ohne die geliebte Natur, faszinierte mich dennoch, weil dieser Priester in die Schicksale der Menschen verwoben war. Sie sprachen sich bei ihm aus, fragten ihn um Rat, er konnte helfen und mit ihnen für ihr Recht kämpfen: war das nicht mehr als ein Pfarrherr irgendwo auf dem Dorf oder in der Stadt zu sein? Für das Verbot der Arbeiterpriester gegen Ende der fünfziger Jahre hatte ich kein Verständnis. Von dem Verbot waren gewisse Gruppen nicht betroffen, z. B. die Kleinen Brüder Jesu. Sie nannten sich alle "Brüder", obwohl auch Priester darunter waren, und die Handarbeit, oft auch Fabrikarbeit, gehörte zu ihrer Lebensweise. Etwa um die gleiche Zeit wie die Bücher von Michel Quoist und Gilbert Cesbron machte in unserem Ordensseminar ein Buch die Runde, das hieß "Mitten in der Welt", von René Voillaume. Er war der Gründer der Kleinen Brüder, und dieses Buch enthielt seine Briefe an die Bruderschaften. Der Titel war ein Programm: "Mitten in der Welt" sollten die Kleinen Brüder leben. Es war nicht einfach, mitten in der Welt zu sein, und doch nicht "von der Welt" zu sein, und dafür bildeten die Briefe des Gründers eine Art fundamentaler Regel. Meine erste Rundfunkreportage
Persönlich lernte ich die Kleinen Brüder Jesu kennen, als ich schon einige Jahre Priester war. Ich machte damals ein Praktikum beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt. Mein Chef, der Leiter des Kirchenfunks, fragte mich: "Haben Sie eine Idee, was wir an Fronleichnam bringen könnten? Wir haben da eine halbe Stunde Sendezeit". "Ja" sagte ich, "mich hat immer die Art fasziniert, wie bei den Kleinen Brüdern Jesu Eucharistie und Armut gekoppelt sind. Das wäre einmal etwas anderes als prunkvolle Fronleichnamsprozessionen". Dem Chef gefiel's, und so zog ich denn mit einem Tonbandgerät los zu meiner ersten Rundfunkreportage. "Duisburg, Gleisdreieck" hieß die erste Adresse. Wie der Name sagt, rasselten von drei Seiten die Züge vorbei, und mittendrin eine Siedlung von Wellblechhütten. Hier wohnten nur die Ärmsten. Eine dieser Nissenhütten war das "Kloster" der Kleinen Brüder Jesu. Bruder Michel begrüßte mich herzlich. Er war ein französischer Priester, der Verantwortliche der kleinen Gemeinschaft. Michel war gerade von der Arbeit gekommen. "Was arbeiten Sie denn?" Ich staunte nicht wenig über seine Antwort. Michel arbeitete als Straßenfeger! Nicht mit der Maschine - mit dem Besen reinigte er Duisburger Straßen. Kein Deutscher wollte diese Drecksarbeit machen. Michels Kollegen waren lauter Türken. "Und dafür haben Sie sechs Jahre Philosophie und Theologie studiert??" Ich wusste, warum ein Kleiner Bruder so etwas tut. Ich hatte es bei Voillaume und Charles de Foucauld gelesen. "Mitten in der Welt" der kleinen Leute, der sozial Schwachen, wollen die Kleinen Brüder ein kontemplatives Leben führen. Sie wollen in dieses Milieu eintauchen, das oft ein kirchenfernes Milieu ist, nicht, um zu bekehren und zu missionieren, sondern um mit diesen Benachteiligten solidarisch zu leben. Absichtslose Freundschaft - dieses Zeugnis wollen sie geben. Die Liebe Jesu zu den Armen soll so in der heutigen Gesellschaft lebendig werden. Warum gerade Straßenfeger? Zu meiner Überraschung enthielt Michels Antwort nichts dergleichen. Als ich ihn fragte: "Warum tun Sie das?", sagte er einfach: "Weil es mir Spaß macht!". "Was? Es macht Ihnen Spaß, als Priester ein Straßenkehrer zu sein?" Aber er sagte kein Wort in der Richtung, dass er dies aus Solidarität mit den Benachteiligten tue. Ich verstand das damals nicht - zumal ich es gerne als O-Ton für meine Reportage gehabt hätte. Erst später ging mir ein Licht auf. Michel wollte nicht den Eindruck erwecken, es sei doch ein tiefer Abstieg für ihn als Akademiker, mit diesen kleinen Leuten die Straße zu kehren. Er wollte sich auf diesen Abstieg nichts zugute tun und seine Kameraden nicht verletzen. Zumal, soweit ich mich erinnere, der ein oder andere von ihnen im Zimmer war und zuhörte. Es klopfte kurz an die Tür (eine Schelle gab es nicht), und schon stand einer der Nachbarn im Zimmer. "Michel, heut Abend kommt eine tolle Sendung im Fernsehen. Kommst du rüber?" Die Kleinen Brüder hatten nämlich keinen eigenen Fernseher. Kinder kamen herein, ohne anzuklopfen. "Onkel Michel" war eben beliebt in der ganzen Kolonie. Während all dieser kleinen Szenen lief mein Tonband, und so wurde der Besuch bei Michel, der als Interview geplant war, zu einem kleinen dokumentarischen Hörspiel. Armut und Kontemplation Michel lebte nicht allein in dieser Wohnung, denn die Kleinen Brüder leben immer in Gemeinschaft, aber an seinen Mit-Bruder habe ich keine Erinnerung. Vielleicht hatte er Spätschicht und war noch in der Fabrik. Als das Gespräch zu Ende war, öffnete Michel die Tür zu einem kleinen Nebenraum, nicht größer als eine Besenkammer. Das war die Kapelle. Natürlich sauber und geschmackvoll eingerichtet. Hier hielt er seine tägliche Anbetung. Er legte die Hostie, die sonst von dem Gold einer Monstranz umgeben ist, ganz einfach in eine Schale aus Holz, und diese auf den Altartisch. So knieten wir beide eine Stunde lang und hielten Anbetung. Ich kann mir vorstellen, dass Michel all die Sorgen, die ihm seine Arbeitskollegen und Nachbarn anvertraut hatten, in dieser Stunde vor Gott brachte. Er schaute den Herrn im Sakrament an, der sich am Kreuz und in der Gestalt des Brotes noch viel tiefer erniedrigt hatte als Michel das tat, und diese Kontemplation (Beschauung) gab ihm Kraft für sein armes Leben unter Armen. Und umgekehrt gab dieses Leben ihm immer neue Nahrung für sein Gebet. Ohne dieses Gegengewicht der Kontemplation war das Leben von Arbeiterpriestern tatsächlich nicht selten in Gefahr, seine christliche Tiefe zu verlieren. Manche Arbeiterpriester wurden so zu Gewerkschaftsfunktionären. Aber bei den Kleinen Brüdern Jesu hatte ich diese Sorge nicht. Mit einem frohen Gruß |